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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 40,2.1927

DOI Heft:
Heft 8 (Maiheft 1927)
DOI Artikel:
Michel, Wilhelm: Die Illusion des Selbstgenügens: eine Rede über menschliche Beziehungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.8882#0105

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Die Jllusion des Selbsigenügens

Eine Rede über menschliche Beziehungen
Von Wilhelm Michel

^Vl^ir haben erlebk, daß vor wenigen Iahren die Lufl zwischen denMen-
^-^-^schen mit einem Male ansing, dünn und kalk zu werden. Wir sahen stau-
nend einander an. Wir hakken sestzustellen, daß wir das Inkercsse an der freien
Selbstmikkeilung, besonders am geistigen Auskausch, sorkschreikend verloren. Es
krieb die Menschen nichk mehr geistig zu einander. Sie hatken sich nichks mehr zu
sagen. Sie verloren die Lust, ans einander in geselliger Weise zu hören. Es
schien, als gäbe es plöhlich nichks mehr zwischen ihnen, aus das man sich
berufen oder vereinigen konnke, das man gemeinsam zu erörkern und zu umwer-
ben hakke. Wir hörten zwar keineswegs auf, Vereine und Bünde zu gründen
und Versammlungen abzuhalken. Wir suhren fork, äußerlich so zu Lun, als
gäbe es unendlich vieles mikzukeilen. 2lber im Iunern spürke jeder, daß er von
einem kalken, dürren, Lrockenen Geist ergrissen war, von der Skimmung eines
öden, skepkischen Selbstgenügens, das seine Inkeressensphäre und sein leben-
drges Skreben mik einem Rnck aus das Armseligste einschränkke.

In dieser Zeik haben wir alle mehr oder minder häufig die Erfahrung gemachk,
daß Menschen, die wir kannken, mik einem Male aufhörken, sich beim Gespräch
zu erhitzen, geistige Verpflichkungen anzuerkenncn; ja, überhaugk ekwas anzner-
kennen, das als geistiges Skrebensziel oder als OrienLierungspunkk außer und
über ihnen sland. Ieder schien sich cnkschlossen zu haben, das Sich-Anspan-
nen auszugeben und sich bei dem zu beruhigen, was er geistig war nnd hakke.
Das nahm bei manchen die Form einer krockenen Skepsis, bei andern geradezu
die Form einer geistigen Trägheik an.

Es war die Zeik, in der die so viel beschrieene Buchscheu aufkam. Die Men-
schen hörken auf, Bücher zu lesen. Das heißk, sie hörken nakürlich nichk völlig
aus, es zu kun; aber es geschah mik einem grundlegend veränderken Einsatz, mik
einer veränderken Wahl und einer veränderken Tendenz. Bis an den Schreib-
kisch heran, an dem wir saßen, schlug die kalte, böse Lnsk eines seindlichen
Schweigens; der beste Glaube an die WirksamkeiL des Workes ward uns in
der Brust eingeschnürk. Eine Erscheinung, die beweist, daß jene peinliche 22er-
änderung nichk nur bcim bücherlesenden Publikum vor sich gegangen war, son-
dern auch bei den Schreibern und Sprechern. Sie ging das 22olk im ganzen
an, nichk nur einzelne Schichken.

Zur gleichen Zeik wurde das bemerkbar, was man die Krisis der Künste genannk
hat. Es brauchk da nur an das Schicksal derLyrik erinncrk zu werden. Wir
Älteren sind in einer Zeik erwachsen, da die jeweils nenen Versbücher von Ge-
orge, Dehmel, Daukhendey, Rilke, Momberk daö likerarische Zenkralereignis
des Iahres waren. Noch in den ersten Iahren nach dem Kriege gab es jene
enormen Aufbäumungen lyrischer Zeikformung, die uns alle ekwas anzugehen
behaupkeken. Nun schien aber mik einem Male nichk ekwa bloß ein Nach-
lassen der lyrischen Formkrafk eingekreken zu sein, sondern ekwas viel Weik-
kragenderes: dic Lyrik an sich, als Kunstsorm, verlor mit einem Schlage —
gerade dic Plötzlichkeik der Verändcrung ist aussallend — die FähigkeiL, das
Zeikwichkige zu sassen und darzustellen. Sie war nichk mehr das Gesäß, in das

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