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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 40,2.1927

DOI Heft:
Heft 10 (Juliheft 1927)
DOI Artikel:
Michel, Wilhelm: Der Widerspruch zwischen Geist und Leben
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8882#0248

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Lnxsrvxkr XXXX.

Der Widerspruch zwiscben Geisi und Leben

Von Wilhelm Michel

^t^ie meisten Menschen haben eine Ahnung davon, daß die Ordnung des
'^-^Geistes cine andere ist als die Ordnung des Lebens. Sie merken, daß
der Geist unter Logik, Begriff, Gesetz ßehk, während das Leben sich ofL
um diese Dinge rechL wenig kümmerL. Den Begrissen, die wir uns bilden, den
Gesetzen, die für unser Denken verpflichLend sind, setzk die WirklichkeiL des
Lebens sehr oft einen peinlichen, ja zerschmeLLernden Widerspruch enkgegen.
GehL man dem, was man „Erfahrung" nennL, auf den Grund, so bemerkk
man, daß Erfahrung zu einem wesenklichen Teile ein Makerial an uns her-
anbringk, das im Widerspruch zu den Vorstellungen und Forderungen un-
seres Geistes stehL. SuchL man sich dann in die I^eaLur dieses KonLrastes zu
verscnken, so ergibL sich, daß das Makerial der Erfahrung von gcschichk-
licher ArL ist, also mit ZeiL und Raum, mik Wechseln und Werden, miL
Modifikakion, Skeigerung und Abschwächung, miL Dämonie und Leiden-
schafk zu Lun hak, während die WelL des Geistes starr und unveränderlich ist
und zunächst keincrlei Beziehung zu ciner Skasfclung von ZeiLen und Räu-
men besitzk. Auf diesem Gegensatz, der schwache, insbesondere jugendliche
Geistcr hark, oft Lödlich verletzk, beruhk der höhere, der eigenkliche WcrL jeder
„Erfahrung". Trüge diese dcm Geiste nichL das Widersprechende zu, so würde
sie ihm auch nichk das Neue, das Andere, das ihm Fehlende und ihm Nvk-
wendige, nämlich das Lebendige, zubringen. Der „Weise des Geistes"
setzk die Erfahrung die ganz frcmde „Weise des Lebens" entgegen. In jedem
MomenLe eines erfahrenen Widcrspruchs wird dem Geist Leben einver-
leibt. Jn jcdem Augenblick, da wir hark auf ein Geschehen stoßen, das der
ideellen Vorstellung nichL cnLsprichk, arbeikeL sich unserem Geiste Welk und
WirklichkeiL ein. Der Skandal, das Ärgernis, das UnerLrägliche, das „Sinn-
lose" und UncrwarLeLe — das gerade ist zugleich das Köstliche und Nährende,
das dem Geiste erst biLLer schmcckL, um dann von ihm miL ErschüLLerungen dcr
Liefsten Freude cnLgcgengenommen zu werden, als entscheidende Hilfe zu eige-
ner Berwirklichung.

Am ernstesten und schrosfsten stellL sich der AnLagonismus Geist — Leben nicht
im praktischen Bereich dar, sondern an jencm OrL dcs innercn Lebens, wo sich
dcr Geist als BewußLsein, besser: als BewußLheiL dem Leben ent-
gegensetzt. Dem alltäglichcn Dascin gchört die Erfahrung an, daß Ver-
richtungen, die wir im allgcmcinen souverän beherrschen, durch ein unzeikiges
DazwischcnLreLen des BewußLscins empfindlich gestörL werden können. So-
bald sich die Gedankenregung einstellt „Ich will dies jetzt Lun" oder „Ich
muß dies jetzL Lun", sobald in uns ein Auge sich aufschlägt, ein Zuschauer
erwacht, verwirrL sich der Ablaus. Bom fahrendcn Wagen der Zeit her-

2Ng

Juliheft 1927 (XXXX, 10)
 
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