Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 40,2.1927

DOI Heft:
Heft 11 (Augustheft 1927)
DOI Artikel:
Tribüne
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8882#0371
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
sondern auf eine falsche Jdeologie, von der sie besessen war. Jndem sie sich diesen
Mächten, denen sie bisher moralisierende Proteste entgegenstellte oder den Rücken
zukehrte, offen zuwandte, hat sie nicht die Flagge vor ihnen gestrichen, sondern sie
hat nun erst die Möglichkeit gefunden, Einfluß darauf zu gewinnen. Denn indem
sie ihre prinzipielle Enthaltung, d. h. die negative Wertung des Films usw.
aIs solchen aufgibt, gewinnt sie erst die Möglichkeit, innerhaIb der Gesamt-
gebiete zu werden. Es ist unfruchtbar und falsch, zu erklären: der Film überhaupt ist
gut oder schlecht, aber es ist wichtig, zwischen guten und schlechten Filmen zu unter-
scheiden.

Das gilt nicht bloß gegenüber dem Film, sondern ebenso gegenüber der Wirtschaft.
Professor Heinz Marr gab in seinem Dortrag über die Arbeitskrise eine Genealogie
des modernen „Betriebes", der sich in einem Prozeß immer fortschreitender Arbeits-
zerlegung aus dem korporativen Handwerk über die Manufaktur zu der heute noch
fast überall herrschenden Stufe der „Manumechanik" entwickelt. Dabei warnte er
davor, die Not des heutigen Jndustriearbeiters allein aus der „seellosen" Maschine
oder auS der bloßen Rasfgier der Unternehmcr zu erklären und sie durch eine neue
WirtschaftSordnung überwinden zu wollen. Mit dilettantischen Entwürfen einer
neuen, auf moralischen Prinzipien beruhenden Wirtschaftsordmmg, die nicht reali-
sierbar sind, weil sie die konstitutiven Gesetze der Wirtschaft nicht kennen, ist dem
Arbeiter nicht zu helfen. Ebensowenig wie die heutige Wissenschaft im Ganzen ver-
worfen und durch eine „neue" Wissenschaft ersetzt werden kann, kann eine neue
Wirtschaftsordnung geschaffen werden, die die Nöte der „alten" Wirtschaft mit
einem Schlage beseitigt. Auch hier ist eine prinzipiell ablehnende Kritik unfruchtbar.
Wie eine Heilung der Wissenschaft nur aus dem reinen wissenschaftlichen Denken
herauS möglich ist, so auch eine Heilung der Wirtschaft nur aus der Wirtschaft
selber heraus. Marr sieht den Ursprung der Arbeitsnot in dem Konflikt zwischen
Technik und Wirtschaft (im engeren Sinn) und glaubt dementsprechend Ansätze zu
einer Überwindung der Arbeitsnot zu sehen in der Verschiebung des Derhältnisses der
technischen und der kapitalistischen Prinzipien innerhalb der heutigen Gesamtwirt-
schaft. Gerade an dieser Frage, die am stärksten die Hohenrodter Diskussion be-
herrschte, wurde auch am klarsten, waS Bejahung heißt und was sie nicht heißt.

*

Die spezifische Stellung der Dolksbildung zu den Dingen der Gegenwart ergibt sich
nicht aus einer besonderen Bildungsidee, sondern aus ihrer besonderen pädagogischen
Aufgabe. Die Möglichkeit einer Einwirkung auf die Gegenwart und ihre Erschei-
nungen ist also für die Dolksbildung nur da gegeben, wo ihre besondere Aufgabe
gestellt ist, in der „Schule", in der „pädagogischen Situation" eines Lehrers gegen-
über einem Schüler. Sie hat in dieser Situation keine Möglichkeit, Kino oder Radio
oder die Welt überhaupt zu „verbessern"; sie darf ihre Schüler auch nicht der Welt
entziehen und eine radikale „Enthaltung" von ihnen verlangen; sondern ihre Aufgabe
ist es, durch sachliche Kritik, durch Wertung innerhalb der einzelnen Bezirke
ihren Schülern eine Distanz zu den Erscheinungen, von denen hier die Rede ist, zu
geben. Das Maß der Distanz wird immer davon abhängen, wie weit der Lehrer
selber ein positives Derhältnis zur Gegenwart gefunden hat.

Die Hohenrodter Tagung von ig2ä, die damals zuerst über die institutionelle Isolierung
und Befchränkung der Dolksbildungsarbeit hinausdrängte, bedeutete den crsten
Durchbruch durch die selbstgewählte Abschließung zur Wirklichkeit. Daß als Gegen-
stand der diesjährigen Tagung nicht eine interne, sondern eine im Blick auf die Welt
liegende Frage gewählt wurde, zeigt, daß man auf dem damals beschrittenen Wege
weiterging.

Z20
 
Annotationen