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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 40,2.1927

DOI Heft:
Heft 12 (Septemberheft 1927)
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Zur soziologischen Umwandlung der Familie
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https://doi.org/10.11588/diglit.8882#0409

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VerankworLungsgefühls beim Jndustrlearbelter, die srch „daheim" entladen nnd
die von dem Auftreten einer krasfen Herrschsucht bis zu den zahlreichen dilet-
tantischen Nebenbeschäftigungen rerchen, in denen sich ein brachgelegkes per-
sönliches Leben, wenn auch willkürlich, Befriedigung sucht. Wir verweisen
ferner auf die Notwendigkeit der Frauenarbeit; auf die zunehmende und sicher-
lich unabweisbare direkte Verflechtung der Frau in das öffentliche Leben,
das auch der weiblichen Kräfte dringend bedarf. Wir sehen den wachfenden
Einfluß der Schule, von dem die Kinder durchgehends weit stärker und um-
fassender als von der Familie ergriffen werden, obwohl diese Einflüsse ent-
sprechend den sozialen und geistigen Spaltungen der Zeit völlig ungesicherk
sind und selbst dort, wo ein bindender geistiger Mittelpunkt noch grundsäH-
l i ch anerkannt ist, von ihm aus nicht mehr durchdrungen werden. Daun sind
da die Einwirkungen der verschiedenen Arbeitsmilieus, in denen die verschiedc-
nen Familienmitglieder stehen, und deren Einflüsse ohne Zusammenhang neben-
einander und gegeneinander wirken. Für alle diese Einflüsse ist die Familie
bestenfalls eine Ausgleichsstelle oder sie isi gegen sie eine Zuflucht geworden,
ohne sie in einer positiven Gestaltung bewältigen zu können. Auch als Konsu-
mentenhaushalt hat die Familie keine Gesialtungskraft mehr: sie isi der Will-
kür von draußen preisgegeben, die gesellschaftlichen Einflüsse unsres chaoti-
schen, von der Propaganda der kapitalistischen Prodnktion beherrschten Kon-
sums erreichen sie Leils direkt, Leils über die verschiedenen Familienglieder, die
den verschiedensien Milieu-Einflüssen draußen unterliegen.

Es ist daher mehr oder minder Zufall, zum mindesten aber ganz von den inbi-
viduellen Bedingungen innerhalb der Familie abhängig, welche Form diese
Ausgleichung der äußeren Einflüsse in der Familie annimmt, welche Struktur
das Familienleben aufweisl, wer von den Beteiligten und welche Kräfte dabei
den Ausschlag geben. llnd daran wird auch nichts geänderk, wenn auf Grund
vernünftiger überlegung eine „Nvrmalform" gesunden Familienlebens aufge-
stellt und mik überlegenem Willen zu verwirklichen versucht wird; auch sie ist
ja individualistisch, vielleichk „vernünftig", aber im Grunde willkürlich: es
fehlt das geistige Zenkrum, dem die Menschen frei gehorchen, aber das sie nicht
seHen.

Aus diesem Mangel der heutigen Familie an positiven Gestaltungskräften —
der nicht den einzelnen Familien etwa zur Last zu legen ist, sondern dem als
einem gesellschaftlichen Berhängnis die Familien unterworfen sind —
ist für die junge Generakion die Notwendigkeit erwachsen, die Lösung ihrer
Nöte und die Bindung ihrer Kräfte in einem nahen und konkreten Gemein-
schaftsleben „draußen" zu suchen: in der Gruppe. Der Ausdrnck dieser Aus-
wanderung, dieses Exodus aus der Familie ist die Fugendbewegung. Nichk
weil subjektiv die Eltern versagk haben oder der Kampf der Gencrationen heute
besonders zugespiHL wäre, sondern weil der institutionelle Zerfall der Familien-
ordnung objektiv-geschichLlich unaufhaltsam ist, ist die Zugendbewegung entstan-
den und als Übergangsform notwendig geworden. llnd diese Notwendigkeit
wird durch keinen Mißerfolg widerlegt.

IV.

Wir stehen vor der Kernfrage: ist „die Familie", im Hinblick auf ihre säku-
lare Krise, wenn nicht einer Rekknng ihrer bisherigen Daseinsform, so doch

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