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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 42,2.1929

DOI Heft:
Heft 7 (Aprilheft 1929)
DOI Artikel:
Michel, Ernst: Goethes Naturanschauung im Blickfeld unsrer Zeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.8886#0009

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xxxxu.o

Goethes Naturanschauung im Blickfeld unsrer Zeit

Von Ernst Michel

I.

s ^oethe bezeichnet einmal zusammenfassend seine gesamken Schristen als „Er-
^-^zeugnisse eines Talenkes, das gleichzeitig, aus einem gewissen
Mittelpunkte, sich nach allen Seiten hin versucht" habe. Aus
diesem MiLtelpunkt sind nicht zulctzt auch seine naturwissenschaftlichen Schristen
hervorgegangen. Anch von ihnen führt ein Weg in die Mitte der geistigen
Existenz Goethes. Mehr noch: in unseren Tagen bricht sich langsam die Er-
kenntnis Bahn, daß kein Weg unmittelbarer an dieses geistige Zentrum heran-
führt als der über seine naturwissenschaftlichen Schristen. Goethe selbsi war
sich dessen bewußt und hat es in vielen überlieferten Gesprächcn ausgesprochem
2lber man achtete nicht oder kaum darauf, und so kommt es, daß wir heute
geradezu von einer neuen Entdcckung Goethes sprechen können, zu der die natur-
wissenschaftlichen Schriften den Schlüssel bieten*.

Dieser Wandel unsrer geistigen Einstellung ist nicht von ungesähr. Er hängk
zusammen mit der zentralen Krise unsres Geisteslebens, insbesondere unsrer
wissenschaftlichen Erkenntnis. Unsre Zeit leidet unker einem Übermaß von Wis-
senschaftlichkeik, aber einer Wissenschaftlichkeit, die den natürlichen Zusammen-
hang mit der menschlichen Tokalität und dem persönlichen Leben verloren hat
und ein abstraktcs Dasein sührt. Jn ihren gcsunden Zeiten war Wissenschaft
ein Lebensgebilde unter und mit anderen, in der Neuzeit ist sie auf Kosien aller
andcren Lebensbereiche ausgewuchert und hak rückwirkend das gesamte Leben der
Zeik sich unterworfen und nach sich geformt. Mehr noch: in gesunden Zeiten war
Wissenschaft nichk nur eingetan in die G a n z h e i L des Lebens und ihr dienend,
sondern auch ihr Organ war ein anderes: es war die Einheik des mensch-
lichen Geistes und nicht wie heute die Tcilkraft des Verstandes.

Der Verstand, das Organ unsrer Wissenschaft, isi seiner Eigentümlichkeit nach
das Vermögen, die Wirklichkeit nach ihrem mechanischen 2lufbau und 2lb-
lauf zu erfassen, nach Ursache und Wirkung, nach den Verhältnissen von Maß,
Zahl und Gewicht. Er hak, nach einem Wort von Goethe, es „mit dem Ge-
wordenen, Erstarrten zu Lun, daßeres nütze".

Solange der Vcrstand noch in die Ganzheit des Lebens einbezogen ist, liesert er,
chie die andern Seelenkräfte, aus seine2Öeise dem Geisie (Gocthcs „Bernunst")
die Elemcnte zum schöpferischcn Gedankcnwerk. 2lus dem Lebcnsganzen aus-
gebrochen aber und selbständig geworden, wird er aus dem dicnenden Element
der Erkenntnis, das er seinem Wesen nach ist, zum herrschenden Prinzip. Dieser

Für den Goethe-Leser sei auch hicr auf die ausgezeichnete AuSgabc oon Goethes „Faibcnlehre"
(H. Wohlbvld) und „MorphologischeSchriften" (22. Troll) in Eugen Oiederichs' Lerlag verwiesen.

Aprilheft igag (XXXXII, 7)

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