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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 44.1930-1931

DOI Heft:
Heft 2 (Novemberheft 1930)
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Herrigel, Hermann: Arbeitslosigkeit und Philosophie
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https://doi.org/10.11588/diglit.8820#0154

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ArbeitslosigkeiL und PhilosoHLe

ir haben unter uns beinahe drei Millionen Arbeitslose, und bis das gedrnckt

ist, was ich hier schreibe, wird diese Zahl schon überschritten sein. ^gn andern
Ländern ist es ebenso. Millionen Menschen wollen arbeiten nnd haben beinen Ar-
beitsplatz. Sie wollen leben, sie haben Bedürsnisse und können sie nicht besriedigen,
weil sie nichts verdienen. Die Wirtschaft umgekehrt will produzieren und muß Dau-
sende oon Maschinen stilliegen lassen, weil die Käufer für ihre Waren fehlen. Gibt
es eine drängendere Frage als die nach dem Fehler in diesem Zirkel, nach dem
Punkt, an dem eingesetzt werden muß, um dieser Not abzuhelfen?

Es ist begreiflich, wenn einer sagt, daß er auf die ganze !s>hilosophie pfeife, solange
solche Not besteht. Es ist begreiflich, wenn er eS für sich sagt, aber es ist falsch,
wenn er verlangt, daß die Philosophen ihre Arbeit aufgeben und sich nur um die
Arbeitslosigkeit kümmern sollten; oder wenn daraus, daß sie daS nicht tun, der
Schluß gezogen wird, daß Philosophie und Leben sich nicht mehr berühren.

Dieser Vorwurf wird zu oft gemacht, um nicht banal zu sein. Warum erwartet
man gerade vom Philosophen, daß er der Wirtschaft Ratschläge gebe in einer
Frage, an der sich schon ein Heer von Nationalökonomen und WirtschaftSpolitikern
vergeblich versucht haben? Niemand wußte bis heute zu helfen. Allen Maßnah-
men zum Trotz wachsen die Zahlen der Arbeitslosen immer weiter an. Offenbar
hat man den Punkt noch nicht gefunden, an dem der Jirkel unterbrochen werden
kann.

Es isr nicht di'e Sache der Philosophen, in die konkreten Einzelfragen des praktischen
LebenS einzugreifen und die Fachleute beiseite zu schieben. Eine solche Berührung
zwischen Philosophie und Leben ist nicht möglich^ Aber vielleicht liegt in dem 2lnruf
des Philosophen doch eine richtige Ahnung, daß nämlich der Zirkel gar uicht inner -
halb der Wirtschaft, sondern nur von außen her auflösbar ist. Dann kehrt
sich aber der Borwurf der mangelnden Fühlung zwischen Philosophie und Leben
um und wendet sich gegen die Wirtschaft. Vielleicht sind die Fachleute deshalb noch
zu keinem Erfolg gekommen, weil sie nicht auf die Philosophen gehört baben; daS
heißt nun nicht auf das, was die Philosophen unmitLelbar zur Arbeitslosigkeit sagen
könnten. Dazu hat sich wohl noch kein Philosoph geäußert. Es könnte aber sein,
daß er doch davon gesprochen hätte, auch ohne daß das Wort Arbeitslosigkeit dabei
gefallen wäre. Es könnte sein, daß das, was er sagte, auch für die Arbeitslosigkeit
galt und daß man ihn nur nicht verstand.

Die Arbeitslosigkeit hat unmittelbar wirtschaftliche Gründe, daS ist nicht zu be-
zweifeln. Sie beruht auf der Wirtschaftskrise. Aber worauf beruht die Wirtschafts-
krise? Ist die Wirtschaft ein autonomer und isolierbarer Bezirk des Lebens, der aus
sich selber erklärt werden kann und nicht mit dem ganzen übrigen Leben in Zusam-
menhang steht? Oder besteht dieser Zusammenhang nur darin, daß alle andern
Lebensgebiete von der Wirtschaft abhängig sind, die ihrerseits am Anfang der gan-
zen Reihe steht und ihren eigenen Gesetzen folgt? Es genügt, diese Möglichkeit ins
Auge zu fassen, um ihre Unmöglichkeit zu durchschauen. Wenn wirklich die Wirt-
schaft der selber nicht mehr begründete, also in sich beruhende Grund des LebenS wäre,
wenn mit ihr die Frage der Philosophie nach dem Grunde beantwortet wäre, so
könnten die Philosophen ruhig abtreten und die weitere Arbeit der Nationalökononne
überlassen.

Damit wäre aber die Lebensfremdheit auch nicht überwunden, denn sie ist für die
Philosophke so konstitutiv, daß sie auch auf die Nationalökonomie mit überginge,
wenn diese wirklich die Erbschaft der Philosophie antreten würde. Der Vorwurf
besteht insofern zu Recht, als die Philosophie sich uicht mit den Einzelfragen beschäftigt,
ja daß sie ihre Grenze überschreitet und ihre Aufgabe aus den Augen verliert, wo

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