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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

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Heft 12 (Septemberheft 1932)
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Linfert, Carl: Französische Kunst in London, [2]: aus Anlaß der großen Ausstellung in der Königlichen Akademie
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0898
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sozusagen die Verdoppelung der Dämmerung selbst. Und doch hat Fragonard auch
die Kraft, in den weich brandenden Farbwogen des „Lillet cloux" (Slg. Bache,
New Iork) das verliebte, gespannte Fräulein zu malen und zugleich die ganze
Farbenwucht des Barock heraufzuholen, die jetzt dünn und wie abzuheben auf den
Dingen liegt. Noch mehr zeigt sich daS in dem wild gepinselten Porträt seiner
Schwester (Slg. Besnier, Paris): man wird an Rubens erinnert, aber seine orga-
nische Unbändigkeit wird in eine fast chemikalische Wucherung der Farbe oerwandelt
und oiftiq aufqekocht.

Maß ohne Stil

()n diesem Jahrhundert liegt nicht nur der Auslauf des Stils, sondern auch die ent-
scheidende SpiHe der ganzen französischen Kunstentwicklung. Hier balanzierte die
Frage ganz im Unsicheren, wie die geschlossene und lange Zeit so ausgewogene
französische Form noch fernerhin gehalten werden könnte. Zunächst schwelgen
Maler wie Hubert Robert blaß und verschwommen trümmerhaft in römischen Ar-
chitekturerinnerungen oder einfachen, unverschnörkelten Zimmern. Dann aber wird
in der Revolution gerade dieser matt verdampfende KlassizismuS zur angreifen-
den Macht. David verschärft in seinen römischen Heldenbildern (Slg. Wilden-
stein, New Aork) die kühle, ergebene Bürgerhaltung und klärt sie zu selbständiger
Würde auf. Obwohl dies kein „Stil" mehr wird, ist doch alles wieder scharf be-
messen. Die wachsame Gelassenheit des französischen Geistes kam auch über diesen
Bruch hinweg und wußte sogar in der stillosen Folgezeit, bis heute, eine Haltung
geordneter Fülle zu bewahren. Selbst der gewagtesten Bildsprengung der Gegen-
wart verleiht sie fast noch — Stil. Daß das Maß in Frankreich etwas Beson-
deres ist, keineswegs nur oberflächliche Verknöcherung, bewieS sich recht eigentlich
erst mit dem Anbruch der bürgerlichen Zeit, als kein durchgehender Lebensstil mehr
das MaH und seine Wirksamkeit beschützte. DaS Maß, das, wie Ortega sagt,
Frankreich im Ubermaß besi'Ht, wird nie zur reinen Ruhe. Es ist eine Leidenschaft.
Oft reinigt es die Luft wie ein pfeifender, die faulen Sinne verdrehender Wind.
Seine immer erneuerte Forderung jagt unheimlich, auch verwirrungdrohend (und
damit bi'Sweilen schon verwirrend) um die scharfen Ecken und Kanten der ver-
erbten Ordnung, wenn ihre Bahnen zu alt, gemessen und anspruähsvoll geworden
sind. Jede Revolution wird hier, auch in der Kunst, nur straffere Ordnung.

So zieht seit der Revolution, breit, zäh und in der etwas verschlossenen Haltung
privater Behäbigkeit, die alte Tradition der anschaulichen Formfülle in die jüngste
Zeit. Ohne Stil und doch nicht zerfallend. Das war in der Ausstellung gut zu
sehen: an den Porträts von David (z. B- Slg. Sassoon, London), deren farbige
Stärke und flüssige Strähnigkeit mehr ist als Biedermeier, in der entthronten und
sehnsüchtigen Kostbarkeit des Malens bei Gerard, Gros und vor allem (chgres, des-
sen Bild „Oktavian erfährt durch den Dichter die Verheißungen der Aeneis" (Brüs-
sel) durch die schöne und grausame Abgeschiedenheit der Hörenden in Erstaunen setzt.
Hier scheint noch einmal die Klarheit des Stils nachzuschimmern, wie, schon von einem
anderen Ufer, auch bei Delacroix; nur hätte man beide in der Ausstellung sich besser
umrissen gewünscht. Mit Courbet, von dem eine Schneelandschaft (Slg. Coleman,
London) und die Frauen an der Seine (Paris) besonderS wirken, und vor allem
mit Corot kommen wir schon in die dunklen, fast formlosen Reize -einer Landschaft,
die uns überschüttet und tiefer einläßt als der feste, ferne Anblick früherer Land-
schaftskunst. Corots Werk war nur wahllos belegt; aber wenigstens sah man die
Straße in Douai (Paris), diese weich besonnte Vorform der Bilder Utrillos, und
die in Nebelwälder gleichsam eingewachsene, katzenhafte Odaliske (Slg. Levy,
Paris).

Hier beginnt nun schließlich das ganze Blühen, nicht der Naturkräfte — denn diese
waren in Frankreich stets schon gezähmt und in sich selbst geregelt —, sondern der

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