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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 5.1891-1892

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Heft 12 (2. Märzheft 1892)
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Avenarius, Ferdinand: "Wahrheit?"
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11726#0182

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auf, gieb uns keiu lügendes Schauweek, gieb uus
kennzeichnende wahrheit und befreie uns von dem
Lkel, den all dies prunken und j^rotzen mit falschem
Stoff und falscher Gesinnung uns erregt hat. —

Man könnte aus Lseyses Drama vielleicht doch
noch eine zweite !Noral abziehen. „Die Leute sind
in sehr verschiedenem ZNaße befähigt, die wahrheit
zu vertragen; unterrichte dich hübsch bei einem jeden,
ehe du ihm von diesem Tranke reichst." Als gesell-
schastliche Negel, als die es bei Lieyse in Lrage
kommt, mag das zumeist ja richtig sein, der künst-
lerischen wahrheit gegenüber wär es falsch. Der,
dem gegeben ist, „zu sagen, was er leidet", der
Rünstler, hat auch die ssslicht, es zu sagen, die
Micht, als der reicher und tieser Lmpsindende zu

reicherem und tieferem Lmpfinden seine witmenschen
durch sein Beispiel und seine That zu erziehen. Ibsen
z. B. ist der Ansicht, daß solcbe Lrziehung auch zum
Gewöhnen an sittliche wahrheit sörderlich sei, die
würdige Großmama in Lseyses Ltück scheint in dieser
Beziehung der Abhärtungsmethode nicht zuzuneigen,
obgleich deren srühzeitige Anwendung ihren Lamilien-
genossen einige trübe Lrfahrungen minder schmerzlich
gemacht hätte. Die künstlerische wahrheit aber
verlangt dringend eine Abhärtungskur für alle die
Leute, die immer nur Zahmes und Lanftes von der
Runst wünschen. Denn der erwachsene Wensch muß
auch andere Nahrung vertragen, als Milch, ^aser-
schleim und Ntellinis Rindermehl, und die Nlenschheit
ist nachgerade erwachsen. zf. N.

Illundscbau.

Allgemeineres.

* Aus einem Aufsatze „Äber dllS Läpplscbe"
von L. Nobert (Nation t3) drucken wir das Lolgende
ab: „Die sorzirte Männlichkeit kommt allgemach aus
der Atode und ihre antithetische Ablösung heißt ^^
Lemininismus. Schon wurde den Offizieren das Tragen
von Armbändern verboten; das schnarrende r des
Lieutenantsjargons wird seltener gehört im Munde
gut bürgerlicher Zünglinge; die Gecken von heute
Iragen bauschige Beinkleider wie die von vorgestern
beängstigend straff anliegende; phantastische Riesen-
kravatten und der Lächer in der Lsand des Ravaliers
bezeichnen äußerlich die Verweiblichung derselben
wlenschenklasse, die sich vor Rurzem noch so viel zu
gute that aus ihre Gott und sonst nichts in der
welt sürchtende Mannestugend.

psychologische probleme berühren sich gewöhnlich
wegen des gemeinsamen Ursxrungs. Aus dem Mangel
an Lnergie geht die Rarikatur der Lnergie hervor,
wie ihr wideripiel. wenn der tölpelig verliebte
Zyklop die spröde Galatea umwirbt und alle wild-
heit zu verdecken strebt, so ist die Romik seiner Lr-
scheinung derjenigen des bramarbasirenden Schwäch-
lings entgegengesetzt und zugleich innigst verwandt,
r-läppisch« nennen wir beide Liguren. Der Sprach-
gebrauch kennt also den Oberbegriff und wir ge-
langen bequein zur Lrkeuntnis des seelischen phä-
nomens, wenn wir den induktiven weg über das
wort zurSache beschreiten und Lharaktere und Thaten
analysiren, welche die Übereinstimnrung der Urteils-
fähigen als läppisch bezeichnet.

Sueton erzählt vom Raiser Nero das solgende:
»Als er in einer Tragödie auftrat, entfiel ihm sein
Stab; er hob ihn schnell wieder aus und schwebte
nun in Angst und Bangen, er könnte von der Ron-
kurrenz ausgeschlossen werden, bis ihn ein Schau-
spieler durch die Versicherung beruhigte, man habe
nichts bemerkt vor dem stürmischen Beisallsjubel des
publikums. Rein Zweisel, der Zmperator benahm
sich läppisch. wäre einem weniger erlauchten Utimen
die Geschichte passirt, so würden der Abstand zwischen
wollen und Rönnen, die jungenhafte Litelkeit und
die backsischartige Aengstlichkeit allein schon jene Be-


nennung verdienen — nun kommt als erschwerendes
Uloment hinzu die Gegenüberstellung des weltbeherr-
schenden Ltandes und solch einer Lzene. —- Der be-
kannte Utuschelseldzug des Taligula gehört in dasselbe
Rapitel — auch hier großartiges Aufgebot und kläg-
liches Uesultat und auch hier ein Zug des Läppischen
bei einem Menschen, den das Bewußtsein ungemessener
U7acht der persönlichen würde beraubte. Der Lsistoriker
des Läppischen sände noch manches Beispiel unter den
Menschen der römischen Raiserzeit. Utan ries zum
Lrsatz geschwundener Thatkraft den theatralischen Lffekt
und die prahlerische Nede, so kam Läppisches zu Tage.

wo immer Lchwäche sür Ltärke sich giebt und
plump sich brüstet, da hat das Läppische seine Ltatt.
l?lber auch da, wo die Lchwäche, selbstgesällig ge-
hegt, zur Schau gestellt wird über das angeborene
Nlaß. Rant siudet für unseren Begriff kein bezeich-
nenderes Beispiel als die Gedichte der Anakreontiker,
der soliden Lheleute, die beim Blümchenkaffee von
wein und loser Liebe weichlich sangen; und jedem
begegneten wohl schon ehrbare sshilister, die ihres
Lpikuräertums sich berühmten. Utanche Rirchenlieder
der Zinzendorsianer beweisen, daß läpxische Lenti-
mentalität auch das religiöse Gebiet nicht scheut, und
die Bekenutnisse schöner Leelen dritten und vierten
Nanges in der Literatur des vorigen Zahrhunderts
zeugeu für das nahe Beieinanderwohnen von Ge-
sühlsschwelgerei uud Unsiun. war jene Dame nicht
eine läxpische j)erson, die ihren Lakaien in Sturm
und Negen hinausjagte, eine Lliege hereinzuholen
von der Außenseite des Lensters, damit das arme
Thier sich uicht erkälte, und lachen wir heute nicht
der unsreiwilligen Romik des zart empfindenden
Dichters, der in einer nun verschollenen Nlonatsschrist
von t77ö den »Geist eines getöteten Nabens« also
anflötete:

»5chwarzer 5chatten des Vogels Apollos!

Schwinge nicht dein Gefieder von Luft
Meinen Ghren so zürnend vorüberl
Siehe, reuig der That, daß mein Rohr,
lllit dem seurigen Tode gefüllt,
von der Tsche geschlankein lVipsel
Und von der ächzenden Gattin dich riß,

Grub ich lsier den zerrissenen Leichnam
Ties in den Schoß des geheiligten Rasens,
wo, im brittischen Tanze, die Lüßchen
Meiner trauten Laurette geschwebt.«


— l7Z —
 
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