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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 7.1893-1894

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Heft 2 (2. Oktoberheft 1893)
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Bie, Oscar: Anregende Missverständnisse
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https://doi.org/10.11588/diglit.11728#0028

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wie die antike Architektur. Auch das Mittelalter ließ nicht
von der Farbe, denn es gab Nichts dazu Veranlassung.
Da plötzlich mit dem Beginn der Renaissance thut die
Erde ihren Schoß auf und giebt einige der besten Erb-
stücke des Altertums wieder dem Tageslicht zurück. Die
Renaissance kam über Jtalien, und es war also italienische
Erde, die von der vergangenen Herrlichkeit erzählte. Die
römischen Werke aber, die da unten geruht hatten, waren
nur mit leichten und zarten Farbenandeutungen bedeckt
worden -— diese hatte die Erde längst abgenagt und ab-
gerieben, und weiß wie Schnee kamen die Marmorwerk^e
an die Oberfläche. Man glaubte, sie wären imnier so
weiß gewesen, man träumte von einer ganzen antiken weißen
Plastik, man schus bald nnr noch weiße Arbeiten, in denen
man den Geist der so verehrten Antike wieder lebendig
wähnte. Die Farblofigkeit, die früher nur Ausnahme ge-
wesen, wnrde Regel und Herrscherin. Die Ästhetik kam
hinterher. Als ob es nicht erst dreihundert Jahre lang
reine weiße Plastik gäbe, nannte man sie die wahre, die
richtige, die ideale, was man oft auch durch „die antike"
ersetzte. Man konstruirte Systeme. Plastik als reine
Fvrmkunst bedürfe nicht des „Hülfsmittels" der Farbe,
solle nur durch eigene Mittel wirken; sie gebe nur die
Form, nicht den malerischen Schein; sie abstrahire von
allem wachsfigurenhaften Naturalismus; sie sei nur eiue
Architektonik des menschlichen, des tierischen Körpers. Und
hatte man nicht in gewissem Sinne Recht? Hat die weiße
Plastik, deren Blüte durch ein fatales Mißverständnis.
herausgesührt wurde, nicht ihre.ganz eigne, selbständige, in
sich geschlossene Entwicklung gehabt? . Die Alten haben
fast Alles ausgebildet, was die Plastik als Formkunst
bieten kann -— nur einen ganz kleinen Rest ließen sie
übrig, weil sie sich erst langsam in der reinen Formsprache
zu emanzipiren hatten und weil sie das Material als
solches nicht genug achteten. Zu spät kamen fie vor den
letzten Schritt, als ihre Kraft schon verraucht war. Dieses
Letzte hat die weiße Plastik der Renaissance, hat vor Allem
der große Formenmensch Michelangelo vollbracht. Nuu
anch dies vollbracht ist, hat die Plastik als Form aus-
geredet, und alle Spätereu sind auch nur Epigonen
gewesen. Seit wenigen Jahren erst regt sich etwas Neues,
eine Plastik, die über gebaute Formeu hinausgeht uud
auch in den Kriegsruf der reinen Charakteristik mit ein-
stimmt. Warten wir, was aus den Anregungen eines
Nodin, Dampt und anderer Pariser Sezessionisten wird.
Der erste Anstoß lag in der Wiederaufnahme der Farbe,
auf die man wiederum durch archäologische Funde, aber
diesmal durch griechische, gelenkt wurde. Zwischeu den
rönnschen und den griechischen Fundeu spannte sich das
Zeitalter der weißen Plastik; aus einem Jrrtum entstanden,
ist sie uns wirklich etwas Großes, etwas Positives, etwas
Notwendiges geworden und — gewesen.

Die erste Oper, die es gegeben hat, -— sie ist ver-

loren — Rinuccinis Dafne nüt der Musik des Peri
wurde t69-z im antikenfreundlichen Hause Corsi zu Florenz
aufgeführt. Man wußte gar nicht, was man da machte.
Die Blüte des Altertums hatte die Köpfe so schwärmerisch
erhitzt; Erneueruug der antiken Kunstübung hieß das Ziel,
welches vorher im Hause Bardi, nun im Hause Corsi
ewig und immer abgehandelt wurde, oft sogar in der Form
platonischer Dialoge. Freilich hatte sich der monodische
Gesang im Gegensatz zum mittelalterlichen, uur harmonisch
gedachten Chorgesang, schon langsam vorgebildet, wie auch
die weiße Plastik nicht vom Himmel gefallen war. Caccini
war der Entdecker des einfachen melodischeu Singens uuter
Begleitnng harmvnischer Folgen, das uns heute so selbst-
verständlich vorkommt. Aber das alles that man im
Hinblick aus die Antike — solchergestalt, glaubte man, sei
die antike Musik gewesen. Jndem man gar mythologische
Schäferspiele, wie Dafne oder Eurydice, komponirte, glaubte
man der antiken Tragödie auf der Spur zu sein! Der
antiken Tragödie mit ihrem stark epischen Zuge, mit ihrer
Musikbeschränkung, ihren rhythmisch so komplizirten Chören,
deren Verständnis uns heut völlig abgeht, ihrem Mangel
an Polyphonie, ihrem gänzlich entgegengesetzten harmonischen
Bau ! Jst es nicht dieselbe Naivetät, wie die des Renaissance-
malers, der christliche Stofse in das Gewand seiner Zeit
kleidet? Ein Dvni, fanatischer Antikenschwärmer, bezeichnete
die ersten Florentiner musikdramatischen Versuche cuur
luoclulutious et euirtu ucl urocluur veteruur uruAuitrcs
exlribitu. Auch dies war ein blendender Jrrtum, aber
der Glanz dieses Jrrtums wurde zum Leitstern einer neuen
-Kunstgattung, die eine der merkwürdigsten Laufbahnen
zurücklegen sollte: der Oper. Statt, wie man ersehnte,
sich „eines Tages den so gepriesenen Tragödien der antiken
Griechen und Lateiner zu nähern", arbeitete man lustig
und schnell eine Kunstweise heraus, die zur spezifisch
modernen ward. Sie hat mit den Jahrhunderten ihre
Selbständigkeit bewiesen, sie hat uns schließlich nüt den
eigenartigsten Schöpfungen moderner Kuust ersreut, nnd
wenn auch lächelnd, so blickt sie doch nicht undankbar auf
das falsche antike Kleid zurück, in dem sie ansänglich in
die Welt zog und ohne welches sie vielleicht noch in den
ersten Wochen ihres schwachen Kinderlebens ein frühes
Ende gefunden hätte.

Wenn der Sinn für Farben erwacht, kommt gleich
hinterher der künstlerische Geschmack und fragt: wo bleibt
die harmonische Einheit? Die Lokaltöne zersallen, sie
zerreißen sich gegenseitig ihre Wirkungen, sie verlangen
nach einem gemeinsamen Deckmittel, einer einheitlichen Be-
sänftigung. Jm Ansang unseres Jahrhunderts war der
Farbensinn stark in die Brüche gegangen. Als aber die
Maler aus dem Winterschlafe des Klassizismus erwachten,
saßen sie vor den Meisterwerken vergangener Jahrhunderte
und studirten da, wie es doch möglich war, daß diese
Bilder bei all ihrer Farbigkeit so einheitlich im Ton




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