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Kunstwart und Kulturwart — 26,3.1913

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Heft 18 (2. Juniheft 1913)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14286#0502

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auch für ihn eine Kraft werden,
mit welcher sich seine Persönlich--
keit verbinden könnte. Sollte man
einmal minder freundlich über Wil--
helm II. sprechen, als seine guten
Absichten, als seine Regsamkeit,
seine Liebenswürdigkeit und sein
Lemperament verdienen, so würde
der zukünftige Geschichtsforscher
ganz sicherlich bestätigen: ein sehr
großer Teil des Angünstigen, das
man aus Wilhelms II. Regiernngs--
zeit hervorhebt, war nicht Schuld
des Kaisers, sondern einer Diener-
gesinnung der sogenannt deutschen
Gesellschaft seiner Zeit.

Ein Engländer über deut-
sches Schrifttum*

^bwohl das Werk des bekannten
^SchrifLstellers Perris über
„Deutschland und den deutschen Kai-
ser" sich zum größten Leil mit der
heutigen Politik Deutschlands be«
faßt, darf es doch auch an dieser
Stelle nicht unbeachtet bleiben, da
es zur Erklärung der gegenwärtigen
Lage in längeren Abschnitten auch
das nichtpolitische Schrifttum heran-
zieht. Rnd es kann kein englischeres
Buch geben als dieses. Der Ver-
fasser hat sichtlich das Bestreben, un-
parteiisch zu urteilen. Was bei
einem Engländer ins Gewicht fällt:
er führt zwar die Aeugründung des
Reiches ganz allein auf eine raffi-
nierte Intrige Bismarcks zurück und
macht diesen zu einem macchia-
vellisch-rücksichtslosen Gewaltmen«
schen und Volksfeind. A.ber er ge-
steht doch die Aotwendigkeit und Be-
rechtigung des deutschen Verlangens
nach Ausdehnung der materiellen
Macht zu. Bei solch verhältnis-
mäßig anerkennenswerter Sachlich-
keit, führt die Art, wie das Geistes-

* Oermau^ Lnä tke Oerman Lm-
peror, tterdert ?erris; I.on6on,
^närew iVie1ro8e; dleve-Vork, Heurv
lkolt Oo.

leben Deutschlands behandelt wird,
um so mehr irre und hemmt eine
Verständigung. Ein Kapitel heißt
„Philosophie, von Kant bis Metz-
sche". Hier erscheint Kant als Son-
derling, dessen Hauptwerk wohl das
Denken seiner Zeitgenossen anregte,
darüber hinaus aber unfruchtbare
metaphysische Spielerei war und
darum längst mit Recht vergessen ist.
Nur Kants Befürwortung des
Weltfriedens läßt der praktische
Engländer gelten. Von der unge-
heuren Wirkung, die Kants Ethik
ausgeübt hat, ist keine Rede. Auch
von dem zu reformatorischer Tat
vordringenden idealistischen Frei-
heitsbegriff Schillers und Fichtes
erfährt der Leser nichts. Flüchtigen
Sprungs eilt Perris zu Metzsche,
dessen Lehre vom Äbermenschen in
der noch vor zehn Iahren üblichen,
heute durch nichts mehr entschuld-
baren Verzerrung skizziert wird.

In der gleichen Oberflächen-
manier wird die Literatur abgetan.
Goethe allerdings wird als „8upreme
ßeuiu^" bezeichnet (aber auch als
Deutschlands undeutschester Dichter),
Lessing als tapferer Streiter geprie-
sen; aber Deutschland hat Lrotzdem
den Voltaire, Diderot (!) und Rous-
seau keine ähnlich befreienden und
fortschrittlichen Geister entgegenzu-
stellen. Herder existiert nicht. Selbst
Schiller ist nur einer von Vielen.
Die romantische Bewegung ist eine
wüste Orgie, deren hervorragendste
Leistung die Abersetzung von Dante,
Shakespere und Cervantes bildet.
Als seinen Gewährsmann zitiert der
Verfasser ausgiebig Heine. And mit
diesem letzten Großen sinkt die deut-
sche Literatur in den Staub. Kleist,
Grillparzer, Hebbel, Ludwig, Keller,
Raabe, Storm — sie alle werden
totgeschwiegen. Zwischen Heine und
Hauptmann scheinen nur Spiel-
hagen, Auerbach und Freytag er-
wähnenswert.

^ Kunstwart XXVI, (8
 
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