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Kunstwart und Kulturwart — 32,4.1919

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Heft 20 (2. Juliheft)
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Avenarius, Ferdinand: Wir fordern unser Gericht!
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Um den Sozialismus 3
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https://doi.org/10.11588/diglit.14424#0067

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ihr, auch wir. Und wir sind bereit, sie auf uns zu nehmen. Aber Strafen,
die nicht ihr so nennt, die das Gericht so nennen wird. Wir fordern unser
G e r i ch t.

So lange ihr es verweigert, so lange häuft Zwang anf Zwang und Worte
auf Worte, mit jeder neuen Rede von der „Bestrafung" Deutschlands fügt
ihr nur neue Heuchlerschuld zu eurer Schuld. Wir fordern unser Gericht.
Und wir werden es erhalten, so gewiß die Zahl der Minderheiten in allen
Ländern zu Mehrheiten anwachsen muß. Sie alle, die jetzt schon auf dem
Thron der Welt das wollen, was gleichfalls zu wollen ihr zum großen Welt-
betruge gelogen habt: Gerechtigkeit. Sie alle werden siegen und damit wir. A

Am den Sozialisinus 3

«W^ustände, wie die letztinals geschilderten, werden von den Menschen nicht
^<ohne Bedauern angesehen, nicht ohne Klage hingenommen, uicht ohne
^ IWiderspruch erduldet. Sie werden kritisiert uud bekämpft; und andere
Ideale werden ihnen gegenübergehalten. Zur größten Gegenströmung gegen
die bisher bestehende Lebensordnung ist in Europa der „Sozialismus"
angewachsen. Wie die meisten Worte auf --ismus begreift auch dieses eine
Reihe verschiedener aber eng zusammenhängender Erscheinungen unter sich.
Zunächst eine Gesinnung. Ein Merkmal der bisherigen Lebensordnung
war, daß sie grundsätzlich auf der freien Betätigung der Einzelnen beruhte,
daß sie „mit dem Individuum rechnete". Eine individualistische Gesinnung
beherrschte und trug Wirtschaft und Leben, so viel Sozialgefühl, Sozial-
politik, Gemeinsinn usw. auch im Laufe des fst. und 20. Iahrhunderts in.
die Köpfe und Herzen der Träger des liberal-indivtdualistischen Systems ein--
gedrungen sein mochte.* Soziale Gesinnung setzt sich aus vielen Teilen zu--
sammen. Mitleid, Gerechtigkeitssinn, Scham, Angst, Religiosität, Tätigkeits-
drang u. a. m. können in ihr wirksam sein. Sozialistische Gesinnuug
geht über soziale Gesinnung hinaus; wenn diese tzilfe, Abhilfe, Liuderung,
Reform, kurz Sozialpolitik oder Wohltätigkeit will, so will jene grmndsätz-
liche Erneuerung eines ganzen Gesellschaftkörpers, in dem dann Hilfe,
Abhilfe, Linderung usw. nicht mehr notwendig seien. Sie will die Lebens-
ordnung grundsätzlich nicht auf das ungehemmte Treiben des Einzelnen,
sondern auf das planmäßige Zusammenwirken Aller stellen.

Aus solcher Gesinnung erwächst die Kritik am Bestehenden als zweiter
Bestandteil des Sozialismus. Eine sozialistisch gefärbte Kritik an der Lebens-
ordnung hat es gegeben, seit die Menschheit überhaupt auf den Gedanken
gekommen ist, daß das Dasein nicht gegeben, sondern aufgegeben ist, daß
man menschliche Lebensordnung nicht nur ererben, sondern auch willentlich
planmäßig beeinflussen kann. Welche Schrifteu und Lehren der letzten zwei-
einhalb Iahrtausende man als sozialistisch betrachten kann und welche nicht,
darüber ist ein unfruchtbarer Streit möglich. Sozialistische Gedankengänge
enthalten jedenfalls Hunderte von ihnen; Visle betrachten Platon, die Ar-
christen, Arnold von Brescia, Thomas Münzer und ähnliche Gestalten und

* Es ist zu bemerken, daß Staatsgesinnung an sich uichts mit sozialer
Gesinnung zn tun hat. Wenn eine Staatsregierung z. B. ihre vorirehmste
Aufgabe darin erblickt, die bestchende unsoziale Lebensordnung, sei es auch
nnter Preisgabe einiger ihrer Nebenzüge, zu erhalten, so kann staatstreue
Gesiunung geradezu unsozial sein. Daran ändert es auch nichts, wenn von
zahlreichen Seiten gepredigt wird: staatserhaltende Gesinnung diene als solche
dem Wohle des Ganzen.

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