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Kunstwart und Kulturwart — 32,4.1919

DOI Heft:
Heft 22 (2. Augustheft 1919)
DOI Artikel:
Lange, Konrad von: Die Illusion im Theater, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14424#0178

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„psychophysische" Erklärungen bringen uns nicht weiter. Nur so viel sei
betont, daß der Zustand nach Martersteigs eigenem Zugeständnis ein Doppel -
zustand ist. Ein Doppelzustand aber kann er nur dann sein, wenn die Gehirn-
zentren des Ichgefühls oder Wirklichkeitsgefühls während des Spiels eben
doch nicht völlig ausgeschaltet sind, sondern — wenn auch nur fragmentarisch
und intermittierend — weiter funktionieren. Martersteig ist sich aber uicht klar
darüber geworden, daß er damit sein ganzes schön errichtetes Kartenhaus mit
einem Schlage umwirst. Denn dann ist der Zustand des Schauspielcrs eben
keine Hhpnose, sondern etwas Bewußtes, und zwar etwas, wobei alle Leile
des Gehirns in gleicher Weise, wenn auch abwechselnd, in Lätigkeit treten.
Mit einem Worte, der Zustand ist ebenso wie der Genuß des Zuschauers eine
bewußte Selbsttäuschung, d. h. ein gleichzeitiges oder besser gesagt
abwechselndes Erleben zweier Vorstellungsreihen. Das eine Mal
versetzt sich der Schauspieler durch Autosuggestion in die Gefühle der Rolle,
gleichsam als wenn er selbst Lear oder Hamlet wäre, das andere Mal denkt er
nur an sich selbst, an seinen Körper, seine Bewegungen, seine Stimme usw.,
kurz, an die technischen Mittel seiner Kunst. Und seine eigentliche Aufgabe,
das Schöpferische seiner Tätigkeit besteht eben darin, daß er beides in enge
Beziehung zueinander setzt, derart, daß die äußeren Formen des Ausdrucks
dem darzustellenden Inhalt entsprechen, d. h. mit den darzustellenden Gefühlen
harmonieren. Martersteig hat ganz recht, wenn er eine starke Verwandlungs-
fähigkeit des Schauspielers fordert. Aber er irrt sich, wenn er dies für das
Einzige hält und annimmt, daß der Schauspieler während des ganzen Spiels
eben nur Lear oder Hamlet sei. Er ist es nur zeitweise, solange seine Auto-
suggestion dauert. Zwischendurch ist er immer wieder er selbst, der Schau-
spieler N. N., der über seiner Nolle steht und seinen Körper und seine Stimme
so in der Gewalt hat, daß er anderen alles damit suggerieren kann. Und nur
dies ist es, was ihn zum Künstler macht. Gefühle erleben kann auch ein
andcrer, kann jeder geistig normale Mensch. Auch ihren Gefühlen Ausdruck
geben können die meisten Menschen bis zn einem gewissen Grade. Aber
ihnen s o Ausdruck geben, daß sie damit auf andere wirken, in anderen Lhnliche
Gefühle erzeugen, das kann eben nur der Schauspieler vermöge seiner über-
legenen Kunst, d. h. seiner Fähigkeit, zeitweise aus sich selbst herauszutreten und
dann doch auch wieder er selbst zu sein. Martersteig hat anit dcr Forderung dcr
Transfiguration nur die eine Seite des künstlerischen Schöpfungsaktes be-
handelt, nur die eine Hälfte Les psychischen Zustandes auf der Bühne beschricbcn.
Und zwar diejenige, die im Zeitalter des Natnralismus riotwendig an erster
Stelle stehen mußte. Andere betonen wiedcr die andere Seite ebenso cinseitig,
wie es in einem Zeitalter der stilisierenden Kunst nicht anders sein kann. Das
Nichtige liegt in der Mitte. Ls besteht darin, daß der Schauspieler
vermöge eines Willensaktes eine sehr starke Autosuggestion erlebt, gleichzeitig
aber das Ichgefühl, d. h. das Rollenbewußtsein während des Spieles niemals
vcrliert. Es ist nun sehr begreiflich, daß ein Schauspieler, je nachdem er mehr
nach der Seite des Naturalismus oder des Stils hinneigt, entweder mehr die
eine oder mehr die andere Seite des Zustandes betonen wird, so daß er aus
Fragen, die an ihn gerichtet werden, mehr oder weniger einseitig antwortet.
Der Ästhetiker darf sich dadurch nicht irre machen lassen. Im Gcgenteil, cr
muß gerade aus diesem scheinbaren Widerspruch die richtige Theorie ableiten,
das ist eben die Theorie des Wechsels der beiden Vorstellungsreihen, d. h. der
bewußten Selbsttäuschung.

Tübingen Konrad Lange
 
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