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Kunstwart und Kulturwart — 32,4.1919

DOI Heft:
Heft 22 (2. Augustheft 1919)
DOI Artikel:
Nagel, Robert: Die Höhe des Lebens
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https://doi.org/10.11588/diglit.14424#0179

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Die Höhe des Lebens

^^^ie Streitfrage nach der Höhe des menschlichen Lebens hat in diesem Kriege
/eine eigenartige Beleuchtung erhalten: es waren, wie Hindenburg, Conrad,
Mackensen, Zeppelin, durchweg Männer hoher Iahrgänge, die eine ganz
besondere geistige Spannkrast und Höchstleistung entfalteten. Gcrade auf diese
Erscheinung gestützt, haben nun Arzte und Psychologen ihre Ansichten über das
kritische Mannesalter einer Durchsicht unterzogen und sind zu dem Ergebnis
gelangt, datz nicht das vierzigste Iahr, ja nicht einmal das fünfzigste den Höhe-
punkt des Lebens bilde, sondern dag in den meisten Fällen das geistige Leben
erst nach dem sechzigsten Iahre bergab gehe. Und selbst dies sindet gerade in
diesem Kriege noch seine Einschränkung dadurch, daf; nicht nur in den höchsten
Stellen, sondern auch viel weiter unten in allerlei Berufen Greise zur Wieder-
verwendung hcrangezogen wurden und sich trefflich bewährten.

Die Dauer der Lebensfrische scheint von verschiedenen blmständen abhängig
zu sein, die in Berechnung gezogen werden müssen. Vor allem fcheincn manche
Berufe crhaltend zu wirken, wie der militärische und der geistliche, denn in
ihnen finden sich die frischen und muntern Greise in größerer Zahl. Anderc
Berufe neigen zu früherer Abnahme und Sterblichkest, ohne daß man sichere
Arsachen wüßte. Am da zu entscheidenden Schlüssen zu kommen, müßte man
die Lebensgeschichte zahlreicher Altgewordener und Iungverstorbener in allen
Einzelheiten kennen. Das ist nicht möglich, denn der gewöhnliche Mann gibt
sich über derlei selbst zu wenig Rechenschaft. Man ist immer noch ausschließlich
auf das trügerische Mittel angewiesen, berühmte Menschen, deren Leben durch-
forscht ist, zu Vergleichen heranzuziehen, und nnter ihnen besonders die Dichter,
die in der Darstellung ihres eigenen Lebens am freigebigsten sind und deren
Lätigkeit sich vor der Nachwelt am besten verfolgen läßt. Vergleicht man nun
die etwa s60 Dichter und Denker, die in der deutschen Literatur Rang und
Ramen besitzen, so ergibt sich, daß von ihnen 4 ein Alter über yo, 4 cins
über 85, schon über 80 und sogar 46 ein solches über 70 erreicht haben. Es
kamen also 24 vom Hundert über das Psalmistenalter hinaus, 49 starben in
mittleren Iahren zwischen 70 urrd 40, nur 7 vom Hundert unter 40. Demnach
schcint die dichterische Laufbahn ein ziemlich hohes Alter zu gewährleisten.
Anders aber gestaltet sich das Verhältnis, wenn wir die dichterische Tätigkeit
genauer betrachten. Von den genannten 1.60 Dichtern und Denkern gehören
etwa 45 der Lyrik an. Von diesen starben Günther, Hölty, Novalis, Strachwitz,
Fleming, Platen, W. Müller, Schenkendorf auffallend jung. Auch Hagedorn,
Opitz, Lohenstein, Lwald Kleist nnd Lenau erreichten die Fünfziger nicht. Von
Körner sehn wir natürlich ab. Lyriker höheren Alters sind äußcrst dünn gesät,
und die wenigen Alten zählen meist zu jener Art, die statt der Liederflöte
dic Fanfare bliesen, wie Gleim, Arndt, Rückert.

Von 32 Bühnendichtern wurden nur 6 alt, darunter die Lustspieldichter Hans
Sachs und Bauernfeld, ferner Laube und Grillparzer, endlich Goethe und Richard
Wagner, die doch nur sehr bedingt als Dramatiker zu betrachten sind. Alle
andern Bühnendichter starben auffallend jung oder brachen geistig zusammen.
Ganz im Gegensatz dazu wurden fast alle Epiker und Nomandichter sehr alt;
sie leben in unserer Erinnerung als ehrwürdige Greise fort, von Klopstock an-
gefangen bis Iordan, von Tieck bis Spielhagen; nicht ein einziger unter den
bekanntesten starb in jungen Iahren, vielleicht von Hauff abgesehen, den nach
einer erschreckend jähen Frühentwicklung ein akutes Leiden dahinraffte. Ebenso
wurden auch fast alle berühmten Gelehrten Deutschlands sehr alt, von Erasmus
von Rotterdam bis zu Häckel. Auch nnter ihnen gibt es keine Iungverstorbenen.
Diese Bcispiele lassen sich durch Heranziehung anderer Literaturen nur noch
beweiskräftiger machen.

Daraus scheint sich zunächst die Tatsache zu erhärten, daß die zarte Eigen-
lyrik am frühesten zur Blüte kommt und am raschesten zum seelischen Verfall
und Tod des Dichters führen kann. Die Kriegslyrik eines Gleim oder Arndt

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