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Kunstwart und Kulturwart — 32,4.1919

DOI Heft:
Heft 23 (1. Septemberheft 1919)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Im Kreuzfeuer
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https://doi.org/10.11588/diglit.14424#0208

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Irn Kreuzfeuer

Noch immer, und vielleicht noch auf lange, fehlt uns selbst-
prüfendes Urteil, freier Gerechtigkeitssinn, adliges Bewußt-
sein, wahrer Wille zur Freiheit. Noch immer haben wir
Kleinlichkeit, bequemen Ligenwillen, Mißgunst und Spießig-
keit nicht abgetan. Neu und allzu erklärlich ist die rastlose
Geschwätzigkeit, die Wortmühle der Dialektik, die alle Erkennt-
nis zu Staub zermalmt, die fruchtlose mechanische Umkehr
des alten Autoritätenwahns. Wehe dem, der heute dem Volkc
Gedanken gibt; je dreister man ihn bestiehlt, desto frecher man
ihn beschimpft. Rathenau

/-^v^ie oft ist früher bei uns der Stand der Volksbildung erwogen wor-
^F H Nden! Der Maßstab, mit dem gemessen wurde, war allerdings be-
^^^scheiden: die Ziftern der Bücher-- und Schriftenproduktion, die hohe
Zahl der Schreib- und Lesekundigen, die Menge der Schulen, der regel-
mäßigen Schulbesucher. Der Maßstab war bequem, er verschob sich nicht zwi-
schen Kopf und Schreibfeder, berief sich nicht auf Intuition und Werthaltun-
gen, sondern auf Statistik, und — er war für Deutschland besonders günstig.

Seit dem November haben sich die Tatsachen vielleicht nur wenig ge-
ändert. Die Analphabetenziffer dürfte wenig gewachsen sein, die Bücher sind
heute für den Friedenspreis eines tüchtigen Buches nur noch s6 bis 32 Seiten
lang, aber in die mehreren Zehntausende geht die jährliche tzervorbringung
wohl immer noch. Gegen den Maßstab selbst aber beginnen wir miß-
trauisch zu werden. Kommt es auf die Ziffern an? auf das Lesen- und
Schreibenkönnen? Auf den Umfang der Bildung? Oder vielleicht doch mehr
' auf ihre „Qualität" ? So fragen viele. Qualität — es mag viele Maßstäbe
für sie geben. Legen wir einen an, der vielleicht, geboren aus weltgeschicht-
lichen, Iahrhunderte überblickenden Betrachtungen, auf eine tiefste Sehnsucht
der Gebildeten und der Bildner hinweist! And da freilich bedarf/es nur
eines offenen Blickes auf die Gegenwart, um zu erkennen: Alle Volksbildung
hat das Wichtigste nicht zuwege gebracht: Selbständigkeit. Drei Viertel aller
Entscheidungen, die von Gruppen und Massen getroffen werden, haben
Blindgläubigkeit zur Mutter und einen Demagogen zum Vater. Die Hälfte
aller Lntschlüsse der in mittleren und hohen Stellungen Führenden beruht
auf Verführtheit. Wie kommt das? Neben vielen kleineren sehe ich zwei
bedeutende Nrsachen: die falsche Gründung der Volksbildung auf die Wissen-
schaft und die Korruption der Interessenvertretung.

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t- Septemberheft tdtS (XXXII, 23)
 
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