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Kunstwart und Kulturwart — 32,4.1919

DOI Heft:
Heft 23 (1. Septemberheft 1919)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Im Kreuzfeuer
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https://doi.org/10.11588/diglit.14424#0210

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— France, Bölsche? Sre können jeden beliebigen Fachmann fragen, ob die
wissenschaftlich ernst zu nehmen sind! — Lipps? Ist bekanntlich durch
Worringer erledigt! — Marx? Die neuere Marx-Kritik... — Ra-
thenau? ..."

Hier setzt eine etwas andere Bestimmtheit des Zeitgeistes ein. Rathenau
ist nicht nur wissenschaftlich schildernder Soziologe, sondern auch wollender,
richtungweisender Mensch, Kultur-, Wirtschaft- und Weltpolitiker. Itm so
schlimmer für ihn! Ich habe einmal unter Bekannten die Probe gemacht.
Rathenaus „kommende Dinge" hatten starken Erfolg. Vier hochgebildete
Männer meiner Bekanntschaft, die sämtlich dieses Buch gelesen hatten und
es sämtlich, teilweise mit Begeisterung, hochschätzten, konnten entweder über
Rathenaus in diesem Werk klar angegebene Stellung zu einer tzaupt- und
Erundfrage der Gesellschafttechnik nicht Auskunst geben, oder brachten
eine Teilkritik vor, die sie bei näherer Prüfung selbst als falsch erkannten!
,Die zugegebene Quelle der Fehlkritik war in zwei Fällen: eine Interessenten-
veröffentlichung. Denn eine gesellschaftliche Gruppe hat sich die Abung
des Publikums in der Nachfolge der Kritik mit allen Mitteln zunutze ge-
macht, eben die Interessenten. Man braucht gar nicht eine Reue Wirtschaft
vorzuschlagen, um deren Opfer zu werden. Es genügt, ein durchaus theo-
retisches Buch über die Schädlichkeit des Alkoholgenusses geschrieben zu
haben. Was geschieht darauf? Die Vereinigung deutscher Bierbrauer, der
Verband der Bierfilzfabrikanten und die Gewerkschaft der Arbeiter des
Braugewerbes, sonst den Arbeitgebern nicht grün, schießen sOOOO Mark
zusammen und schicken einen Agenten auf die Suche. Dieser findet binnen
vier Wochen einen Privatdozenten in Freiburg, welcher jenes Buch „wider-
legt", einen Professor in Eincinnati, der längst das Gegenteil bewiesen hat,
einen Arzteverein in Bromberg, der für den Biergenuß unentwegt Lanzen
bricht, und einen Hygieniker, der nach Abwägung aller Für und Wider
„mäßigen" Alkoholgenuß empfiehlt. Vier Wochen später sind alle geeigneten
deutschen Zeitungen mit einem Dutzend von Artikeln versehen, welche von
solchen Autoritäten stammen und jenen Alkoholgegner ein für allemal er-
ledigen. Dabei ist noch abgesehen von allen jenen herzbewegenden, die alte
deutsche Sitte preisenden, die wirtschaftliche Bedeutung des Braugewerbes
ins Licht rückenden Aufsätzen, die der Syndikus zum Schutze der Alkohol-
industrie in 36facher Ausführung an 3600 Zeitungen verschickt hat, von
allen bezahlten Agitationsschriften und von allen — Pöbeleien wider
unsern Alkoholgegner. Aber ein solcher Apparat ist das Feuer einer kleinen
Batterie, verglichen mit der Artillerieschlacht, durch welche die „betroffenen
Kreise" die unglücklichen Verfasser ganzer Gesellschaftkritiken und Utopien
niederzukämpfen trachten. Hunderttausende von Mark werden da verbraucht,
ganze Zeitungskorrespondenzen, Broschürenfolgen, Vortragreisende aufge-
boten, Kundgebungen an Hunderten von Orten inszeniert, Parlamentarier
bearbeitet, die Schlagwörter- und Hetzmittelbehälter der Parteien bis auf
den kleinsten Rest entleert, persönliche Verunglimpfungen und Fälschungen
von der feinsten bis zur gröbsten Form verbreitet, neben erwägenswerten
Gründen Argumente zu Dutzenden ausgeheckt, deren Torheit nur durch
ihre Keckheit übertroffen wird, klug ersonnene Gegenschlagworte in Umlauf
gebracht, alle Fachgelehrten mobilisiert, Forschungsinstitute mit dem Auf-
trag des Gegenbeweises gegründet. Ein halbes Iahr nach Erscheinen einer
wirksamen Utopie gehört schon Mut und eine hervorragende Selbständig-
keit dazu, sie auch nur noch lesenswert zu nennen, denn jeder Kaffeetisch ist
 
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