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Kunstwart und Kulturwart — 34,1.1920-1921

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Heft 3 (Dezemberheft 1920)
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Tagore, Rabindranath: Es war einmal ein König
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14432#0186

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Es würde nur dorthin führen, wo es mehr nnd mehr nnmöglich würde.

Der siebenjährige Knabe wußte nicht, daß, wenn es irgendein „und
dann?" nach dem Tode gäbe, keine Großmutter einer Großmutter uns davon
erzählen könnte.

Aber des Kindes Glauben läßt niemals die Vernichtung gelten, und es
würde nach dem Mantel selbst des Todes haschen, um ihn rückwärts zu
wenden. Es würde ihm unfaßlich sein, zu glauben, daß solch eine Geschichte
eines lehrerfreien Abends so plötzlich zum Lnde kommen könnte, darum
mußte die Großmutter ihre Erzählung aus der auf ewig geschlossenen Kam--
mer des großes Schlusses zurückrusen; aber sie tut es so einfach: Nur
indem sic den toten Körper auf einem Bananenstamm den Fluß hinab--
flößen und von einem Magier ein paar Beschwörungen sprechen läßt. Aber
in dieser regnerischen Nacht und im trüben Schein der Lampe verliert dev
Tod all seine Schrecken im Geiste des Knaben und scheint nichts weiter als
der tiefe Schlummer einer einzigen Nacht. Wenn die Geschichte aus ist,
sind die müden Lider zugedrückt vom Schlaf. So schicken wir den kleinen
Körper des Kindes treibend aus dem Rücken des Schlafes über das stille
Wasser der Zeit, und dann am Morgen sprechen wir ein paar beschwörende
Formeln, ihn wiederzugeben der Welt von Leben und Licht.

Vom tzeute fürs Morgen

Glaubenskämpfe

m nichts ist auf der Lrde mehr
Blut geflossen, als um das, was
sich nicht beweisen läjzt, um Glaubens--
diuge, und vielleicht hat um nichts
mehr Haß gewütet, als gerade um die
Religion, deren Schöpfer aus innig--

stem Gefühle das „Liebet einander!"
fprach. Gedenken wir dessen zum höch-
ften Feste der Christenheit, um das
Christentum herabzusetzen? Das Chri-
stentum ist eine Neligion, die wird,
heute noch wird, und erst vollendet
fein kann, wenn alle ihre Bekenner
den Geist ihres Stifters nicht nur ver-
stehn, sondern leicht und natürlich in
fich nachbilden, wie d-ie Blume die

Frucht. Die europäische Menschheit ist
eine Kinderschar, die vom Lhristentum
erzogen werden soll, was find zwei
Iahrtausende denn in der Lebensge-
schichte der ganzen Menschheit? Cs
mag noch ein drittes und viertes ver->
gehn, ehe man von den Menschen als
von Reifen, wenigsterrs von reifen
SHülern reden kann.

Der Hinweis auf die Gefahr der

Glaubenskämpfe liegt im Sinne des

Christentums, das deu Frieden will.
Und wir sind uns dessen so unbegreif»
lich wenig bewußt, wie oft wir bei all

unserm Streit und Zank und Zorn,
ja bei unsern blutigen Kämpfen eben
um den oder jenen Glauben kämp-
fen. Die Führer der Partei jeder Art
kämpfen nur um eines noch häufiger:
um Interesseu — aber nur die Füh-
rer, die Massen nicht. Die Massen
kämpfen letzten Endes fast immer um
etwas, woran zu glauben sie so oder
so erzogen oder suggeriert sind. Ist
diese Behauptung unwahr? Ieder prüfe
nach. Wenn er sie aber als wahr er-
keunt, wo es um Nationalismus oder
Internationalismus, um Klassenkampf
oder Rassenkampf, um Sozialismus
oder Idividualismus oder sonst um
gefülltes Wort oder gar leeres Schlag-
wort geht — wenn er erkennt: wir
kämpfen um Werte oder Amwerte, deren
Wahrheitsgehalt nicht zu beweifen ist,
an den letzten Endes man glauben oder
nicht glauben muß, — dann erkenne
er auch in all diesen Kämpfen die
ganz besondere Gefahr. And hüte sich
und Hüke andere vor dem Wahn, nur
s i e hätten „die Wahrheit", die ja nur
eine sei. Dann nochmals: nichts
bringt mehr Haß, nichts mordet leich-
ter, als der verketzernde Glaubens-
kampf. A

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