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Kunstwart und Kulturwart — 36,1.1922-1923

DOI Heft:
Heft 2 (Novemberheft 1923)
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Bekker, Paul: Der sinfonische Stil
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https://doi.org/10.11588/diglit.14437#0109

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nur weil der sinfonische Organismus, den tzaydn vorfand, noch nicht zu
voller Höhe entwickelt war, sondern auch weil die Reibung an der Umwelt
— für Haydn die vorrevolutionäre Aristokratenwelt — nicht kräftig genug
war, um zur Entfaltung aller sinfonischen Möglichkeiten zu treiben. Wie
stark das Bewußtsein einer anderen limwelt auf den alternden Haydn ein«
gewirkt hat, zeigen seine Londoner Sinfonien. Angeregt durch die hier
gebotene breite Wirkungsfläche reckt er sich plötzlich gewaltig, nicht nur in
den äußerlichen Maßen der Form, auch in der geistigen Konzeption der
Werke. tzier sprach er zu einem Publikum, zu einer Offentlichkeit, die sich
im Hören des tzändelschen Oratoriums herangebildet hatte. Dieses Bewußt»
sein ließ ihn tiefer Atem holen, gab seiner Rede einen stärkeren Schwung
und machtvolleren Tonfall als daheim, wo solcher Offentlichkeitsbegriff noch
fremd und die Hörerschaft ein abgeschlossener Liebhaberkreis war. Ob Haydn
bei schon früherer Verpflanzung in eine anders geartete Umgebung der
Sinfonie noch weiter gefaßte Ziele gesteckt hätte? Die Sinfonie, die er
schließlich zu solcher Höhe führte, wie in den Londoner Werken, war das
Arbeitsergebnis seines eigenen langen Lebens. Sie bedurfte eines solchen
Arbeitsaufwandes zunächst noch in engbegrenztem Kreise, um organisch zu
erstarken, und dieser Kreis allein war es, der die erforderlichen Kräfte-
quellen bot. Haydn selbst war wohl das erste wahrhaft schöpferische Genie,
das sich der Sinfonie zuwandte, eine reiche, kühnen Neuerungen zugetane,
Anregungen begierig aufgreifende Musikernatur von unerschöpflicher Frucht-
barkeit. Aber seiner Persönlichkeit fehlte jener überströmende Menschheits-
drang, der erst den sinfonischen Organismus zur vollen Bedeutung auszu-
weiten vermochte. Haydns kulturelle Tat war, die Sinfonie überhaupt als
Kunstgattung großen Stils erwiesen und damit den ersten absolut zu wer-
tenden Sinsonietypus aufgestellt zu haben. Er war der Finder. Vollender
zu sein war einem anderen bestimmt, einem, der der Genialität des Musikers
Haydn die höhere Genialität des Menschen gesellte: Ludwig van Beethoven.

In Beethoven erfüllt sich die kulturelle Mission der Sinfonie, wie sie
durch die kleineren Meister des Iahrhunderts angebahnt, durch Haydn
zum Typus vollendet war. Beethoven stürzt nicht diesen Typus. Er behält
ihn bei und gibt ihm abschließende Bedeutung. Die Voraussetzungen dafür
waren bereits vorhanden, harrten nur noch der Erfüllung durch die schöpfe-
rische Tat. Beethoven erhob das sinfonische Kunstwerk zum Sammelpunkt
aller Lebenskräfte der Mit- und Rachwelt, wie er in solcher Reinheit und
geistigen tzochstimmung noch nie erlebt worden war. Das Aberbegriffliche der
Instrumentalsprache wurde zu einer Höhe und Freiheit der Anschauung ent-
wickelt, die an das Abersinnliche grenzt. Alles, was an Lebensmöglichkeiten
in der Sinfonie lag, was die Begründung ihres Daseins gegeben und die
Gesetze ihrer Entwicklung bestimmt hatte, gelangte zu vollendeter Entfaltung.

Solche Steigerung konnte nicht überboten werden. Beethoven sprach zu
einem Menschheitspublikum, wie es den Vorstellungen des großen idealisti-
schen Ausschwungs seiner Zeit <entsprach. Er sprach zu ihm in der gewaltig-
sten und doch reinsten Sprache, die je eine Kunst sich geschaffen: in der
wortlosen Instrumentalmusik. Er sprach zu ihm von der höchsten erreich-
baren Stufe der Formgestaltung aus: der Sinfonie. Damit war die kultu-
relle Mission der Sinfonie in Erfüllung gegangen, war der durch die
Meister der konzertierenden Epoche vorbereitete, durch Haydn festgestellte
sinfonische Typus zu menschheitumspannender Geltung erhoben. Die Mög-
lichkeit einer Weiterführung hing davon ab, ob mit der Vollendung des

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