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Kunstwart und Kulturwart — 36,1.1922-1923

DOI issue:
Heft 2 (Novemberheft 1923)
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Schumann, Wolfgang: Albert Trentinis "Goethe"
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https://doi.org/10.11588/diglit.14437#0111

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Iahrhunderten Millionen eingegeben, ist es notwendig? Diese Gedanken,
zwar von Hundert Geistern bekräftigt, sind sie richtig? Diese Arbeit, in eine
ganze Lebensordnung eingefügt, welchem Zweck dient sie? Der Zweifel bohrt
weiter: bin noch ich es, der dieses alles denkt, fnhlt, tut und treibt, oder
sind es meine Lehrer, Eltern, Ahnen, Vorfahren, das graue Es der Kon»
vention, die durch mich, mit meinem Gehirn, meinem Herzen, meinen Händen
dies alles tun? Bin noch ich es, der junge, eigene, der Selbst-Mensch mit
hellen Augen und frischem Sinn, mit meiner, nur meiner Sehnsucht und
meinem, nur meinem Wollen? Zog ich nicht aus, die Welt ans Herz zu
zieheN) zu erobern, umzugestalten? Und nun? Fesselt mich nun Gewohn«
heit? Habe ich mich unterworfen, wo ich unterwerfen wollte? Lingewöhnt,
wo ich umgestalten wollte? Bin ich gefesselt von innen und außen? Wohl,
ich weiß, Fessellosigkeit ist nicht beschieden. Doch kann dies der Sinn sein
— eintöniges Tun im Bann ungeprüfter Lehre, rasch gelernt, früh geübt.
längst beherrscht, armselig wirksam?

Der Zweifel siegt. Die Fesseln lockern sich, der Sitte Unsinn wird erkannt,
des Wissens Unzulänglichkeit durchfchaut, der Gedanken Bedingtheit erfaßt,
der gewohnten Welt Rnsinn erlebt. Zum Grab des Lebendigen wird die
alltägliche Ordnung, die alle Kraft, allen Willen, alle tzoffnung> jegliches
Auf und Empor! mit zäher Masse ummauert. Da erhebt sich mit letzter
Kraft das Innerste. Was von uns dem Leben im Grabe gehörte — denn
auch dies Dasein im Grabe war ja schließlich „Leben"! — stirbt. Die Fesseln
fallen. Die Mauern stürzen. Mit Wunden bedeckt, blutend vom Riß, der
uns aus dem Liebgewordenen entreißt, doch endlich ein zweites Mal Kind,
Iüngling, offenen Sinns, frei, endlich wieder wir selber, rückhaltlos, ge«
dankenlos, hingegeben der Natur, den Menschen, dem Leben, bereit zu neuer
Eroberung und neuem Tod, erleben wir das „Werde!"

Für den Einzelnen ist dieses Widerfahrnis unentrinnbares Gesetz, wenn
er frei und stark geboren ist. Manche Zeiten begünstigen dieses Erlebnis,
andre verzögern es. Rnsre Zeit, in der erst der scheinbar festgefügte Bau
äußerer Ordnungen, dann die inneren Ordnungen der Sitte, der Lehren, der
Gewohnheiten fragwürdig wurden und brachen, hat Vielen, hat Tausenden
das Stirb und Werde! beschieden. In den stärksten Dichtungen der Epoche
beherrscht es den inneren Rhythmus. So in Trentinis „Goethe".

Die Farbe: ZLatten

^v uf vielen Wegen bereitet Natur die Erweckung. Der findet sie in einer
^neuen Lebensaufgabe, dre ihn lockt und herausfordert,- jener in einer
Liebe; ein Dritter am Sterbebett geliebter Menschen,- ein Vierter in frern-
dem Land. Goethes Erweckung, durch ein Iahrzehnt der Starre vorbereitet,
durch.jene erdbekannte nächtliche Flucht aus Karlsbad eingeleitet, vollzieht
sich in Italien.

Nie erstarrt, doch gehemmt und gedämpft, bricht nun, zuerst mit der Gewalt
trunkener tzingabe, das Sinnenleben Goethes auf. Glühend atmet, schmeckt,
riecht, tastet, hört, schaut er das Land der Sonne. Er trinkt die Köstlichkeiten
der Luft, den Klang der Hundert Glocken, die Farben der Gewässer und Ge»
lände, die Linien der Berge, die süßen Laute der südlichen Sprache, die
Anmut der Gestalten, die Frische der Gebärden, die Wonnen sinnlicher Lust.
Eine jubelnde Rmarmung vermählt ihn dem dämmerlosen Leben. Italien!
flammt und leuchtet und singt und rauscht es durch diesen Noman, und nie
ist die Erfüllung innigster Leidenschaft in höherem Chor gesungen worden

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