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Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

DOI Heft:
Heft 8 (Maiheft 1923)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Von Brueghel zu Rousseau: ein neues Kunstwart-Unternehmen
DOI Artikel:
Haës, K. W.: Henri Rousseau
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https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0068

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und unserm Fühlen dreser Bewegung zutiefst inne, und Werte gewahren
wir an ihren Schöpfungen nicht weniger als an manch hochgefeiertem Werk,
das andere Erlebnisquellen hat. Dies sehen und empfinden, hieß für uns
ohne Rückhalt genötigt sein zu bewußtem Eintreten für Verständnis und
Verständigung, wie wir sie nun anstreben. Wolfgang Schumann

Henri Nouffea«

in oft wiederholtes Arteil erklärt bald dieses, bald jenes Genie zum
R ^ Vorläufer, ja zum recht eigentlichen Angehörigen einer Zeit, die Iahr«
^^zehnte oder Iahrhunderte später als die seine liegt. Goethe, so sagt
man beispielweise, war ein Vorläufer des zwanzigsten Iahrhunderts, Beet-
hoven nicht minder. Denn —? Denn erst wir verstehen recht aus der Tiefe
ihre Schöpfungen und ihres Geistes Art, während sie zu ihrer Zeit einsam
und unverstanden blieben. Wenn überhaupt solches Rrteil sich einiger»
maßen auf wirkliche Sachverhalte beruft, so bedarf es doch bedeutender
Einschränkungen und schärferer Abgrenzungen. Wer wollte etwa verkennen,
daß „Werthers Leiden" weit näher ihren Zeitgenossen als unserm Nach»
empfinden stehen, wer, daß Beethovens musikalische Formen heute zerschla«
gen sind. Weil das Genie als umfassende Persönlichkeit mit einigen Zügen
seines Wesens und Werkes auch uns nahe ist, nehmen wir es am Ende gleich
mit tzaut und tzaaren ganz und allein sür „uns" in Anspruch! And über«
sehen dabei in aller Regel, durch welche nicht minder starken Wesenselemente
es ganz anderen Zeiten angehört als den ihm folgenden. Unschwer läßt
sich etwa fühlen, wie ein Beethoven mit der elementaren Wucht seines
Empfindens, mit der schluchzenden und jauchzenden Urgewalt der Leiden--
schaft, mit dem Nein-Linfachen großer, wenig differenzierter Urgefühle rn
ihrer dramatischen, formell gebändigten, doch weder gedanklich abgeschwächten,
noch innerlich durchkreuzten Gegensätzlichkeit weit eher der Rrzeit angehört
als der unsern? Der Zeit unverbildet-unmittelbarer Anschauung, unzer-
dachten und unverkünstelten Erlebnisses der Welt? Wandeln Große unter
uns als Zeugen erwachter Seelenkräfte, welche wir gläubig-hoffend für Wahr-
zeichen reinerer Menschheitzukunft halten, so nicht minder als Zeugen ver-
wehter Geistigkeit, die uns als Erbgut riesiger und abgründiger durchschüt-
terter Vergangenheit deutbar werden.

/^orgsame Linfühlung, begrifflich vorsichtige Abgrenzung, wortewägende
^Nachdenklichkeit hat aus der Neihe der Geisteskrankentypen einen heraus-
gelöst, den man als „schizophren" bezeichnet: geistgespalten. Weiter Aber-
blick über die Grundzüge unserer Zeit erkennt ihn als den Hervorstechenden
Typus unserer Zeit. Schizophrenie bedeutet äußerlich ein Nicht-mehr-dazu-
gehören, das ständig deutlicher und entscheidender wird. Der erkrankte Geist
spaltet sich: für Funktionen, welche allein das Ich und sein rein persön-
liches Anliegen, Denken und Schaffen angehen, bleibt er mehr oder weniger
normal-fähig; als verbindendes, den Einzelnen der Gesellschaft einordnendes,
unterordnendes, ihren Formen, Sitten, Forderungen, Geboten anpassendes
Element verliert er seine Kraft. Der Schizophrene beginnt die Gefellschaft, die
Welt des Nicht-Ich „falsch" zu sehen, sich von ihr mißverstanden und ver-
folgt zu glauben, hält sie für wahnhaft, irr, böse, boshaft, glaubt sich anfangs
auch wohl berufen, sie aufzuklären, umzugestalten, obwohl er sie typisch miß-
kennt, leidet unheilbar an ihr; er scheidet allmählich aus ihr aus, entfernt
sich weiter und weiter von ihr, bis auch der Wille zu ihrer Rmgestaltung
 
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