Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

DOI issue:
Heft 8 (Maiheft 1923)
DOI article:
Jaspers, Karl: Schizophrenie und die Kultur unserer Zeit
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0095

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
manchmal eine Persönlichkeit von Rang schizophren geworden sei und mit
ihrer schizophrenen Lxistenz gewirkt habe, nur daß wir keine genügende
Kenntnis davon hätten. Wir sind jedoch imstande, sogar im Mittelalter hier
und da eine Schizophrenie festzustellen, nur bei ganz unerheblichen Men-
schen. Die Biographie eines Menschen gibt manchmal auch bei dürftigem
Material Anlaß zu Verdächt. Aber mir ist bisher niemals eine Persönlich--
keit von Rang bei meiner Lektüre vorgekommen, der gegenüber die Frage
nach Schizophrenie wach geworden wäre. Dagegen sehen wir die große
Reihe der tzysterie. Die mittelalterliche Klostermystik, besonders in Ronnew-
klöstern, die heilige Therese sind ohne hysterische Anlage nicht denkbar. Umge^-
kehrt haben wir in unserer Zeit keine Erscheinung, die die tzysterie geistig
so in den Vordergrund treten läßt wie damals. Der Betrüger Cagliostro
und die Seherin von Prevorst als von I. Kerner beobachtete Kranke sind
die letzten tzysteriker, die eine größere Bedeutung für ihre Zeit gewinnen
konnten. !

Man kann sich mit der Konstatierung dieser Tatsachen begnügen. Alle
daran sich anschließenden Deutungen müssen einen sehr subjektiven Lharakter
haben und von dünner Allgemeinheit sein. Doch solche subjektiven Re--
flexionen — die unvermeidlich jedermann kommen — mögen noch ange-
stellt werden. Man wäre versucht zu sagen, wie die tzysterie eine natürliche
Bereitschaft für den Geist vor dem ^8. Iahrhundert gehabt haben müsse,
so passe die Schizophrenie vielleicht irgendwie zu unserer Zeit. In beiden
Fällen wäre natürlich der Geist unabhängig von der Krankheit. Merster
Lckhart und Thomas von Aguino waren nicht hysterisch. Aber der Geist
schafft sich gleichsam Gestalten unter den psychologisch-kausalen Bedingungen,
die ihm gemäß sind. Die Mystik wäre auch ohne tzysterie Möglich gewesen,
aber ihre Lrscheinungen wären ärmer, begrenzter geblieben, was die Ver-
breitung und den leicht sichtbaren Lindruck — nicht was geistige Bedeu-
tung und Sinn im Linzelnen und im Werk angeht. Ganz anders wäre
die Beziehung unserer Zeit zur Schizophrenie. Sie wäre nicht Medium
der Verbreitung, sondern sie gäbe den Boden für die Inkärnation ern^-
zelner überragender Möglrchkeiten.

Was könnte denn die Beziehung schizophrener Lxistenzen zu uns sein?
Man verweist vielleicht darauf, daß unsere Zeit sich für alles Ferne, Fremde,
Angewöhnliche und Primitive enthusiasmiere, für orientalische Kunst, für
Negerkunst, für Kinderzeichnungen. Das ist wohl richtig. Aber warunr tut
sie es? Die Gründe tverden bei verschiedenen Menschen sehr verschieden
sein. Man fragt am Desten zuerst die eigene Lrfahrung. Ich bekenne, daß
mein Verhältnis zu Strindberg indifferent ist, daß ich für ihn fast nur
psychiatrisches und psychologisches Interesse aufgebracht habe. Van Gogh
aber hat mich faszinrert, vielleicht vor allem durch seine ganze weltanschau--
liche realisierte Lxistenz, aber dann doch gerade durch die in seiner schizo-
phrenen Zeit auftauchende Welt. Ihm gegenüber habe ich klarer, wenn auch
weniger leibhaftig erlebt, was mir einzeln angesrchts schizophrener Patienten
wrderfahren ist, und was i.ch oben zu umschreiben versucht habe. Ls ist,
als ob eine letzte Äuelle der Existenz vorübergehend sichtbar würde, als
ob verborgene Gründe.alles Daseins hier sich unmittelbar auswirkten.
Aber für uns ist das eine Erschütterung, die nicht lange erträglich ist„ der
wir uns gern wieder entziehen, die wir zum Teil in den großen Werken
van Goghs einen Augenblick gelöst finden, ohne auch hier es lange ertragen
zu können. Ls ist eine Lrschütterung, die nicht zur Assimilation des Fremden

78
 
Annotationen