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Kunstwart und Kulturwart — 37,1.1923-1924

DOI Heft:
Heft 3 (Januarheft1924)
DOI Artikel:
Kuntze, Friedrich: Das Alkoholproblem: Betrachtungen zu seiner metaphysischen Seite
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https://doi.org/10.11588/diglit.14439#0097

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Das Alkoholproblem

Betrachtungen zu seiner metaphysischen Seite

Inhalte des Lebens, soweit sie überhaupt Gegenstand des Nach-
Ddenkens werden sollen, müssen irgendwie in eine Form eingehen;
mir dem bloß Unbestimmten, diesem „gestaltlosen Sausen des Glocken--
geläutes" (tzegel) ist nichts anzufangen, da allein die Form mitteilbar
ist. Die Formen ihrerseits teile ich wieder ein in zwei Arten, die ich die
rationale und irrationale Form nennen will. Der letzte Aus»
druck hat schwere Bedenken gegen sich,- er hat sich aber nun einmal ein-
geführt. Die rationalen Formen zeichnen sich dadurch aus, daß sie durchj--
weg in sich einen Fortgang haben. So weiß ich etwa, daß ich im Ge--
biet der gemeinen Zahlen durch beliebig häufige Anwendung von Addi--
tion und Multiplikation auf zwei Elemente eindeutig abermals ein Element
desselben Bereiches erhalten werde. Man nennt solche Gebiete „Körper",
und dieser Körperbegriff bezeichnet das Ideal rationaler Erkenntnis. Nur
wenig Formen unseres Geistes haben in sich und untereinander einen
solchen Fortgang, wie wir dies bei den mathematischen Formen beobachten.
Aus der tzöhe der Masten eines Schiffes folgt nicht das Alter des Kapitäns,
aus dem Tode Cäsars folgen nicht die Dichtungen Ovids. Dies Gebiet,
dessen Formen Kunst, Geschichte, Lebens-, Staatseinrichtungen usw. sind,
nennen wir das der irrationalen Formen.

Die hier getroffene Nnterscheidung zwischen rationaler und irrationaler
Erkenntnis ist Vielen geläufig und bekannt unter der Form der rationalen
und irrationalen Betätigung. Es erscheint Melen als durchaus „ver--
nünftig", wenn ein Mann fleißig ist — in Grenzen! —, sich ein Weib
nimmt, mit ihr Kinder zeugt, die ihm gleichen, unnachweisbar Steuern
hinterzieht usw. usw. „Nnvernünftig" aber finden sie es nicht nur, wenn
ein Mensch zum Schaden seiner Gesundheit trinkt, sein Geld verspielt,
derweil seine Familie daheim hungert, nein, unvernünftig sinden sie es
auch, wenn einer sein Leben wagt an die Entdeckung des Nordpoles, wenn
er ein gefährliches Serum zuerst an sich probiert, wenn einer im Kriege ver--
hungert ist, da er sich peinlich an die gesetzlichen Vorschriften,gehalten
hat u. a. m. Vernünftig, mit anderen Worten, findet er alle Außerungen
eines klugen Egoismus, unvernünftig alle anderen. —

Wir müßten nun eigentlich zuerst über dieses vieldeutige Wort „egoi--
stisch", sowie sein Gegenteil einig werden und, wenn möglich, den General--
nenner angsbeu, der über „Egoistisch--nichtegoistisch" „Rational--irrational^
steht. Dies kann nicht geschehen, da der beschränkte Raum die Ausbreitung
der nicht eben leicht zu führenden Nntersuchung verbietet. Wir halten
also nur den eben beschriebenen gefühlsmäßigen Widerhall fest, den die Ve->
tätigung solcher moralischen Verfassungen in dem üblichen moralischen Be--
urteilungsvermögen hervorruft. — Dahingegen müssen wir betonen, dast
das Irrationale nicht etwa als so etwas wis eine Entartung des
Rationalen aufzufassen ist. Dies hat man allerdings durch Iahrtausende
gemeint; wir finden den Gedanken als Leitprinzip bei Sokrates, der da
meinte, falsches Handeln komme nur durch falsche Erkenntnis, wie bei
Spinoza, der die Leidenschaften dadurch meinte beherrschen zu lehren, daß
er sie in ihre verständnismäßig bezeichneten Elemente aufdröselte. Die
entscheidende Wendung kam hier erst im vorigen Iahrhundert durch die
Schopenhauer sche Lehre von dem allmächtigen blinden Willen, — im

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