Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstwart und Kulturwart — 37,1.1923-1924

DOI issue:
Heft 6 (Märzheft 1924)
DOI article:
Naumann, Hans: Zum Problem des Bauerntums
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14439#0205

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Zum Problem des Bauerntums*

^ H nter Sitte, Brauch, Denkweise und Glauben darf man nicht > nach
§8 Nomantischem suchen, sondern nach primitivem oder gesunkenem Gut.
' ^^Mindestens in den Grundlagen überwiegt mutmaßlich das erste. Nach
den Begriffen Gemeinschaft und Primitivität orientieren sich diese Grund--
lagen. An eine wesentliche Änderung der Massen glauben wir uicht, und
die oft bis ins kleinste gehenden Parallelen zwischen den wilden Völkern
der entlegensten Gebiete und unseren Primitiven, Parallelen in mate--
rieller wie ideeller Hinsicht, bestätigen diese Ansicht. Nur Oberschichten
zeigen Entwicklung und Fortschritt in ihren Grundeleinenten, aber die
Massen werden davon nur äußerlich berührt. Es können Dinge durch
neue Sitte oder durch Gesetz aufgehobsn erscheinen; abgeschasft sind sie
nur vorläufig und nur solange, als sis eben nicht gelten. Morgen schon
können sie bei veränderter Lage und fortgesallener Hemmung in alter
Blüte wieder vorhanden sein. Vernunft ist stets bei wenigen nur gewesen;
die Masse bleibt konstant primitiv, unpersönlich und bildet ein großes
Ganzes.

Man braucht Europa nicht zu verlassen, um das primitive Gemeinschafts-
leben, d. h. das Leben der Träger einer noch individualismuslosen Kultur
lebendig kennen zu lernen. Auch bei uns bewahrt die bäuerliche Bevöl--
kerung noch in vieler Beziehung den primitiven Gemeinschaftsgeist, dessen
Reste auch in den Oberschichten der Nation noch hundertfältig weiterleben,
und sie ist deshalb das Hauptobjekt der Volkskunde." . . .

,Der primitive Mensch ist ein sozial gebundenes Herdentier, und das
Gemeinschaftsleben drückt sich auch bei unseren Bauern noch in der unge--
heuren Bedeutung der Nachbarschaft aus, die sich bei Festen und Arbeiten
in der alten Weise geltend macht bis in unsere Tage hinein. Das Dorf
zerfällt in visr bis fünf Nachbarschaften, die einem jährlich gewählten
Nachbarvater unterstehen. Eine Nachbarschaft besteht oft aus derjenigen
Gruppe von Höfen, die einen Brunnen gemeinsam haben; in Dänemark
gehört das Brunnengraben zur Gemeinschaftsarbeit. Iedes Haus weiß
seine Nachbarschaft, die oft einen besonderen Namen trägt. Bis in das
l9- Iahrhundert hinein bestanden schriftlich niedergelegte Nachbarrechte,
Nachbarschastsbücher und wurden bei Eintritt eines neuen Nachbarn

* Die folgenden Ausführungen — Ergänzung und Gegenübung zn denen
V. Gerambs, die wir im Februarheft brachten — sind entnommen einem Buch
des Frankfurter Aniversitätsprofessors Hans Naumann: „Grundzüge der
deutschen Volkskunde" ((5-( S., Verl. Quelle L Meher). Dieses interessante Buch,
auf das wir bald zurückkommen, scheint uns in der Reihe der Bücher über Volks--
knnde, welche man jährlich erhält, einen besonderen Rang einzunehmen. Die
„Volkskunde" stellt sich zu allermeist — nicht immer! — dar als eine Art Mitt--
leres zwischen liebhaberisch-ungeordneter und sachlich-wissenschaftlicher For-
schung und Betrachtung eines ungenau abgegrenzten Gebietes. Naumanns
Schrift ist die erste gemeinverständliche Darstellung des Wissenszweiges von
rein wissenschaftlicher Haltung, die wir erhalten. Gute Abgrenzung des Ge°
bietes und in hohem Grade bewertungsfreie Darstellung, dazu Spürsinn, Ein-
fühlung, Umblick, klare Disposition. Jn dem absolut nüchternen Licht solcher
Betrachtung nehmen sich die Dinge, wie man sieht, völlig anders aus als da wo
Liebe, Hingabe und der Wille zu positiver Bewertung einspielen wie bei Geramb.
Beide tzaltungen dürfen in gewissem Sinne als „berechtigt" gelten. Aus ihrer
tiefen Verschiedenheit aber ergeben sich weittragende Schlüsse, von denen hier
noch ausführlich zu sprechen sein wird, K-L.

(82
 
Annotationen