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Die Kunstwelt: deutsche Zeitschrift für die bildende Kunst — 1.1911-1912

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Schmülling, Ludwig: Der moderne Wohnhausbau: eine Studie zur Geschichte des Wohnungswesens
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https://doi.org/10.11588/diglit.27186#0950

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DER MODERNE WOHNHAUSBAU

GRABMAL'.MÜLLER. ARCHITEKT RUD. KOLBE B. D. A. DRESDEN

fluß italienischer Architekten dem großen Etagen-
hause Platz.

Der Aufschwung des Handels und der In-
dustrie und der hierdurch gesteigerte Reichtum
legte den weitsichtigen Landesherrn die Förderung
des Städtewesens nahe.

Besonders in Preußen legten die meisten
Herrscher schon früh den größten Wert auf
die Ansiedlung geschäfts- und handelskundiger
Ausländer. Zahlreiche Ländereien wurden zum
Preise von Ackerland mit Bauverpflichtung ab-
gegeben. Zur Förderung des Bauens wurden
sogar vom Staat erhebliche Beihilfen gewährt.

ln dieser Zeit wurde, trotz des zahlreichen
Angebotes an guten Mietswohnungen das Speku-
lantentum fast vollständig ausgeschaltet, da die
Bodenwerte und Mieten einer behördlichen
Preisreglementierung unterlagen. Allerdings
leistete der im 18. Jahrhundert geltende Rechts-
grundsatz : „Kauf bricht Miete“ der Spekulation
insofern Vorschub, als Kapitalisten Häuserkom-

Die Exaktheit und Glätte des
Maschinenfabrikates führte einen all-
gemeinen Taumel herbei. Das Hand-
werksmäßige, die persönliche Note
ging im Schablonentum unter. In
den schnurgeraden Straßenzügen, in
den rechteckigen Fassaden mit den
schachbrettartig angeordneten Fenstern,
in den bandwurmartigen Korridoren
und mathematisch exakt geschnittenen
Zimmern spiegelt sich dieser steif-
leinene Geist. Allerdings paßten diese
Menschen mit den neuerfundenen
Zylindern, mit der steifen Wäsche
und den geplätteten Anzügen in ein
solches Milieu. Selbst die Romantik,
welche einzelne, sentimentale Naturen
mit den Resten von Gemüt zu retten
versuchten, erhielt zu dieser Zeit ein
steifleinenes Kleid. Man denke nur
an die gußeiserne Gotik jener Zeit,
woran sogar der Künstlergeist eines
Schinkel scheiterte. Es scheint, als
ob die technischen Fortschritte auf
den Gebieten der Kanalisation und
Bewässerung und der Stolz auf die
sanitären Errungenschaften das Gefühl
für die künstlerische Natur erstickten.

In dieser Zeit wurde der Wohnungs-
grundriß ein rationelles Linienspiel,
die Fassaden sanken zu seelenlosen
Atrappen mit Fensterlöchern und die,
Bebauungspläne zu gleichförmigen
Systemen herab. Die Freude an der
durch die neuen Wunder der Technik
verfeinerten Lebenshaltung und der
Stolz auf die Präzisionsarbeit masehi-

plexe erwarben und durch Umgehung der Tax-
ämter die Mieten steigerten.

Erst im 19. Jahrhundert setzte ein völliger
Umschwung der Verhältnisse ein.

Die Einführung der Gewerbefreiheit, die Be-
seitigung des Zunftzwanges, ferner die Städte-
ordnung vom Jahre 1808 sowie das Edikt
„über den erleichterten Besitz und den freien
Gebrauch des Grundeigentums“ brachten eine
vollständige Umwälzung der Boden- und Wohn-
verhältnisse. Große Terrains wurden durch die
Entfestigung der Städte, durch die Bahnhofs-
bauten vor den Toren und durch den Bedarf
für industrielle Anlagen erschlossen.

Die besser situierten Klassen verließen die
mittelalterlichen, dumpfen Stadtviertel und siedel-
ten sich vor den Toren an. Es schien, als ob
durch die Aufklärung und durch den mathe-
matischen Geist des beginnenden Maschinen-
zeitalters eine Art Massenhypnose über die
Menschen gekommen war.

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