KINDERBÜCHER EINST UND JETZT
Aus: FRAU HOLLE. Gezeichnet von FRITZ KUNZ. Verlag von JOS. SCHOLZ-MAINZ
geformte Rohstoff — ohne eine andere Zier und
Zutat als die der schimmernden Patina — den
kindlichen Genießern dargeboten ward, und es
zieht die Morgenröte einer reicheren Entfaltung
künstlerischen Wollens in der Geschichte des
Kinderbuchs herauf. Einen starken Impuls erfuhr
dies bewußt Neue aus dem Überdruß, den man
stärker und stärker gegen die immer mehr sich
breit machende moral pädagogische Tendenz
der marktgängigen Kinder- und Jugendliteratur
mit Recht empfand.
Diese Tendenz reicht ziemlich weit ins acht-
zehnte Jahrhundert zurück und ist in gewissen
Anschauungen der Aufklärungszeit fest ver-
wurzelt. Und sie blieb bis ins letzte Viertel
des neunzehnten Jahrhunderts hinein erschreckend
lebendig, weil die wenigen, die ihr das sauere
Dasein hätten noch saurer machen können, — die
Pocci, Richter und Pietsch, Moritz v. Schwind und
Wilhelm Busch, Töpfer und Oberländer — mit
ihrer frischen, in sich selbst ruhenden Kunst
eine Tendenz des Kampfes oder auch nur der
Abwehr nicht verbinden mochten.
Als der eigentliche Vater der Moralpädagogik
DIE KUNSTWELT I, 3
und als der erste, der eine wohlgemessene
Dosis Moralinsäure selbst den kleinsten seiner
unschuldigen Leser zu verabreichen liebte, ist
wohl Joachim Heinrich Campe anzusehen, den
Goethe mit wenigen treffenden Worten in seinen
Gesprächen mit Eckermann zeichnete. Campes
Bearbeitung des Defoeschen Robinson, die zu
seinen Lebzeiten über hundert Auflagen erlebte,
wird noch heute gerühmt und gelesen trotz
der schwerflüssigen Einstreuungen moralischer
Natur,in denen die„Bearbeitung“hauptsächlich be-
stand. Campe gab ferner 1777 ein „Sittenbüchlein
für Kinder aus gesitteten Ständen“ heraus, das
in alle wichtigeren Kultursprachen und selbst
ins Hebräische übersetzt wurde. Überschauen
wir die spätere Literatur dieser Art, so genügen
zu ihrer Kennzeichnung einige Titelnennungen:
„Rheinische Kinder-Bibliothek oder moralische
Erzählungen zur Veredlung des Herzens. Ge-
sammelt von einem Rath-Geistlichen“, „Beicht-
spiegel für Kinder“, „Die goldene Krone
der gehorsamen Kinder. In Reimen verfasset
von I. W. S.“, „Leben, Thaten, Reisen und
Tod eines sehr klugen und sehr artigen vier-
175
Aus: FRAU HOLLE. Gezeichnet von FRITZ KUNZ. Verlag von JOS. SCHOLZ-MAINZ
geformte Rohstoff — ohne eine andere Zier und
Zutat als die der schimmernden Patina — den
kindlichen Genießern dargeboten ward, und es
zieht die Morgenröte einer reicheren Entfaltung
künstlerischen Wollens in der Geschichte des
Kinderbuchs herauf. Einen starken Impuls erfuhr
dies bewußt Neue aus dem Überdruß, den man
stärker und stärker gegen die immer mehr sich
breit machende moral pädagogische Tendenz
der marktgängigen Kinder- und Jugendliteratur
mit Recht empfand.
Diese Tendenz reicht ziemlich weit ins acht-
zehnte Jahrhundert zurück und ist in gewissen
Anschauungen der Aufklärungszeit fest ver-
wurzelt. Und sie blieb bis ins letzte Viertel
des neunzehnten Jahrhunderts hinein erschreckend
lebendig, weil die wenigen, die ihr das sauere
Dasein hätten noch saurer machen können, — die
Pocci, Richter und Pietsch, Moritz v. Schwind und
Wilhelm Busch, Töpfer und Oberländer — mit
ihrer frischen, in sich selbst ruhenden Kunst
eine Tendenz des Kampfes oder auch nur der
Abwehr nicht verbinden mochten.
Als der eigentliche Vater der Moralpädagogik
DIE KUNSTWELT I, 3
und als der erste, der eine wohlgemessene
Dosis Moralinsäure selbst den kleinsten seiner
unschuldigen Leser zu verabreichen liebte, ist
wohl Joachim Heinrich Campe anzusehen, den
Goethe mit wenigen treffenden Worten in seinen
Gesprächen mit Eckermann zeichnete. Campes
Bearbeitung des Defoeschen Robinson, die zu
seinen Lebzeiten über hundert Auflagen erlebte,
wird noch heute gerühmt und gelesen trotz
der schwerflüssigen Einstreuungen moralischer
Natur,in denen die„Bearbeitung“hauptsächlich be-
stand. Campe gab ferner 1777 ein „Sittenbüchlein
für Kinder aus gesitteten Ständen“ heraus, das
in alle wichtigeren Kultursprachen und selbst
ins Hebräische übersetzt wurde. Überschauen
wir die spätere Literatur dieser Art, so genügen
zu ihrer Kennzeichnung einige Titelnennungen:
„Rheinische Kinder-Bibliothek oder moralische
Erzählungen zur Veredlung des Herzens. Ge-
sammelt von einem Rath-Geistlichen“, „Beicht-
spiegel für Kinder“, „Die goldene Krone
der gehorsamen Kinder. In Reimen verfasset
von I. W. S.“, „Leben, Thaten, Reisen und
Tod eines sehr klugen und sehr artigen vier-
175