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Die Kunstwelt: deutsche Zeitschrift für die bildende Kunst — 3.1913-1914

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Seiffert, Johannes: Der Zuschauerraum des Theaters
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https://doi.org/10.11588/diglit.22030#0122

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DER ZUSCHAUERRAUM DES
THEATERS. VON JOHANNES
SEIFFERT.

I.

Die beiden treibenden Ideen im Theater-
wesen, die Idee, dem Individuum den Strom des
Lebens stets gegenwärtig zu halten, und die, es
von seinen Augenblicksstimmungen abzulenken,
entspringen sowohl persönlichen als auch sozialen
Bedürfnissen.

Das Individuum fühlt im Leben das Lücken-
hafte seiner Erfahrung und sucht im Theater
entweder deren Erweiterung und Vertiefung in
dem vom Dichter gebildeten ,,Stück" des Lebens,
sucht also in erster Linie Erhebung über den
Alltag — oder aber es sucht ein Wegwischen,
eine Betäubung des Gefühls seiner Beschränkung,
also in erster Linie Zerstreuung-.

Das erste Bestreben deckt die Verwandtschaft
des dramatischen Wollens, namentlich in seiner
Konzentrierung zur Tragödie, mit dem Ideen-
gehalt der Kulte, mit dem Wesen der Religion
auf, und das letztere findet seine Befriedigung
schließlich am leichtesten in einer Nahrung, die
seinen Tagesbedürfnissen trivialerer Natur zusagt:
in Witz und Situationskomik und in Ausstattungs-
augenweide.

Die eine Richtung sucht in der Dramatik das
volle Leben, von dem uns der Alltag zu trennen
droht, und die andere sucht ein Sichabfinden
mit dem Alltag, oft in Parodie und Ironisierung
der Bestrebungen, die uns über ihn zu erheben
suchen. Die eine Richtung strebt danach, der
Gewalt und der Macht des Lebens, des Schick-
sals nahe zu kommen, sich von ihr erschüttern

und immer von neuem aus der Alltagsbeschrän-
kung herausreißen zu lassen — die andere möchte
alles Schicksal, alle Tragödie, möglichst nur von
weitem sehen, wie der Bürgersmann im Faust
sich nichts Schöneres denken kann, als zuzusehen,
wenn hinten weit in der Türkei die Völker auf-
einander schlagen.

Die eine Richtung erstrebt Bildung des Lebens
in uns selbst, die andere seine Unterhaltung.

Man könnte diese beiden Richtungen die volks-
tümliche und die klassenbewußte nennen.

Wo der Wille lebendig ist, mit allen Gesellschafts-
genossen das Leben eines Volkes führen zu
wollen, da ist auch des Schicksals Allgewalt eine
lebendige Macht. Wo aber eine Klasse ein
Sonderleben führen kann, wo sie eine Macht ge-
wonnen hat, die von dem allgemeinen Schicksal
in gewissem Grade sich unabhängig fühlt, da
führen die Neigungen dieses Sonderlebens auch
dazu, in erster Linie Befriedigung der Klassen-
stimmungen zu suchen, die sich dann leicht und
bald in Komödien und Ausstattungsstücken, d.h.
Ablenkungsstücken (ablenkend von der Allgegen-
wart des Schicksals) verliert.

Das Wirken und Weben hoher Gedanken des
Lebens und der Dichtungen fühlen und empfinden
wir am lebendigsten, wenn uns das Leben nahe
tritt, wenn es unter uns sich abwickelt, sodaß
wir es miterleben können und müssen. Die Zer-
streuung im Gefühl des Geborgenseins vor
schwerem Schicksal, die Illusion des Erhabenseins
über und des Geborgenseins vor dem Darge-
stellten, wird am leichtesten erreicht, wenn die
Szene uns möglichst entrückt wird.

Geben wir uns solchen Gedanken hin in der
Betrachtung der typischen Zuschauerräume, die

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