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Die Kunstwelt: deutsche Zeitschrift für die bildende Kunst — 3.1913-1914

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Bahr, Hermann: Dialog vom Marsyas
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https://doi.org/10.11588/diglit.22030#0402
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DIALOG VOM MARSYAS

uns verlangen kann, uns von ihr auszuschließen.
Weshalb denn auch jeder besondere Mensch so
gehaßt wird, weil er allen ein Vorwurf ist und
die Ausreden nimmt."

„Was meinst du?" fragte der Künstler.

„Ich meine," sagte der Meister, „von deinen
Reden trifft vieles sicherlich auf die heutige
Kunst zu, nur tust du, als ob sie die einzige
wäre. Es gibt gewiß eine solche Kunst aus
Mangel, wie du sie geschildert hast. Aber es
wäre doch sonderbar, wenn du nie bemerkt
hättest, daß es auch eine andere gibt: aus Fülle.
Wer bei sich nicht genug zu leben hat, greift
nach der Kunst, ja; aber auch wer mehr hat,
als er braucht. Wobei man sich billig wundern
mag, daß wir für jenen höchsten Ausdruck mensch-
licher Not wie für diesen menschlichen Glücks
denselben Xamen haben. Das Gefühl, unfähig
des Lebens zu sein, die Scham darüber, die Angst
davor und der Wahn, das Leben ersetzen zu
können, dies alles bis zu einer explosiven Be-
klemmung gesteigert, macht produktiv. Aber auch
das Gefühl, stärker als das Leben zu sein, der
Stolz darauf, die Lust, sich verschwenden zu
dürfen, und die Furcht, sonst an sich zu er-
sticken, macht produktiv. Jenes zu Werken,
welche mehr sind als ihr Mensch und diesen
welche geringer sind als ihr Mensch, da sie von

ihm nur enthalten, was ihm zu viel ist, was er,
um sich zu entladen, abzugeben wünscht und
geschwächt zurücklassen. Dieses zu Werken,
wovon befreit er sich erleichtert und erfrischt
fühlt. Ich möchte aber noch einmal, daß wir
uns nicht in die Kunst einengen, sondern lieber
alles Tun betrachten, das überall ebenso aus
Schwäche, um sich daran zu steigern, als aus
Kraft, um sie dadurch zu stillen, geschehen kann.
Es gibt Menschen, die leer sind, und wird ihnen
nun ein Reiz von außen zugeworfen, nichts haben,
woran er sich aufhalten könnte, sondern selbst
von ihm, indem er zurück und wieder nach außen
prallt, mitgerissen werden: unfähig, sich selbst zu
bewegen, fühlen sie sich im Schwünge solcher
Reize erst, welchen sie für ihren eigenen halten;
weshalb sie auch zu sagen pflegen, daß sie nur
in ihren Werken oder nur in ihren Taten leben.
Es gibt aber auch andere, welche voll sind und
nun jeden Reiz, der zudringt, in sich selbst ein-
fügen und an sich selbst befestigen können, so
daß er mit ihnen verwächst und in ihnen reifend
sich verwandelt, bis er zuletzt, wenn ihnen zu
enge wird, abgestoßen und wieder nach außen
zurückgegeben werden muß, reicher als sie ihn
empfangen haben, und ihnen eigentümlich ge-
merkt. Was Schiller an Natalien so bewundert
hat, die er rühmt, ihr sei die Liebe aus einem

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