Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Kunstwelt: deutsche Zeitschrift für die bildende Kunst — 3.1913-1914

DOI article:
Haeckel, Ernst: Die Natur als Künstlerin
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.22030#0612
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
DIE NATUR ALS KÜNSTLERIN

Schmuckstücke: Kronen und Diademe, Ringe und
Kelten; Ordensdekorationen: Kreuze, Sterne usw.,
in unendlicher Mannigfaltigkeit. Viele dieser Kunst-
formen sind im ganzen und im einzelnen den Pro-
dukten hochentwickelter menschlicher Kunst so ähn-
lich, daß man in beiden auf die Gleichheit des
schöpferischen Kunsttriebes schließen könnte. Und
doch liegt nur Konvergenz beider Produkte vor.
Bewußtsein können wir in der Zellseele der Radiol-
arien so wenig annehmen wie im Seelenleben der
Pflanzen und der meisten niederen Tiere. Vielmehr
müssen wir ihnen unbewußte Empfindung zuschrei-
ben in dem Sinn, den ich im zehnten Kapitel meiner
Welträtsel und im dreizehnten Kapitel der Lebens-
wunder näher erläutert habe.

Der wesentliche Unterschied zwischen den
Kunstwerken des Menschen und den Kunstformen
der Natur liegt also darin, daß die ersteren mit mehr
oder weniger klarem Bewußtsein, zielstrebig, von
Gehirn und Menschenhand erschaffen wurden, die
letzteren hingegen unbewußt, ohne vorgefaßte innere

Absicht, nur durch die Anpassung des Plasmas an
die Lebensbedingungen der Außenwelt. Man kann
die Kunsttriebe der Protisten geradezu als „pla-
stische Zellinstinkte" bezeichnen; denn sie stehen
auf derselben Stufe der Seelentätigkeit wie die be-
kannten Instinkte der höheren, vielzelligen Tiere und
Pflanzen. Gleich diesen Instinkten entstehen sie
ursprünglich durch Anpassung, Uebung und Ge-
wohnheit; dann aber sind sie durch Vererbung zu
ständigen Charaktereigenschaften der Art geworden.

Die kieselhaltigen Radiolarien sind unzweifelhaft
die größten Künstler unter den Protisten; denn sie
realisieren in ihren wunderbaren Kunstwerken alle
möglichen, theoretisch denkbaren Grundformen, die
wir in unserer Grundformenlehre (Promorphologie)
nach mathematischen Prinzipien unterscheiden kön-
nen. Auch in der stereometrischen Konstruktion ihrer
höchst regelmäßigen Kunstwerke verfahren sie mit
der peinlichsten Akkuratesse eines geschulten Geo-
meters, und in der eleganten Oramentik ihrer phan-
tastischen Gitterschalen und deren vielgestaltigen An-

SCH NITTE R IN UND GÄRTNER. ALT-WIENER PORZELLAN-FIGUREN

(SAMMLUNG GRAF ATJERSPERG UND BARON GAGERN)

519
 
Annotationen