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Kussmaul, Adolf
Jugenderinnerungen eines alten Arztes — Stuttgart, 1899

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https://doi.org/10.11588/diglit.15258#0392

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372

Bei Semmelweis.

die Geburtshelfer dieser Geißel des Fraueugeschlechtes gegenüber.
Semmelweis erzühlte uns, daß er gleich in den ersten vier Monaten,
nachdem er seine Hilfsarztstelle angetreten, 15" § aller Entbundenen
durch die Seuche verloren habe; niedergedrückt von dem Bewußtsein
seiner Ohnmacht, habe er sich tief unglücklich gefühlt. Unerwartet sei ihm,
gelegentlich der Sektion eines hochgeschätzten Kollegen, des Professors
der Anatomie Kolletschka, ein Licht aufgegnngen, das ihm die ersehnte
Aufklürnng über die Natur und Ursache der mörderischen Krankheit
verheißen und schließlich wirklich verschasft habe.

Kolletschka hatte sich an einem verletzten Finger eine Leichenver-
giftung zugezogen und war ihr am 13. Mürz 1847 erlegen. Semmel-
weis wohnte der Leichenöffnung bei; ihr Vefund überraschte ihn un-
gemein, er stimmte mit dem bei seinen am Kindbettfieber verstorbenen
Entbundenen völlig überein. Das konnte kein Zufall sein. Er schloß
daraus, dasselbe saulige Gift, das den Anatomen getötet, töte auch
die Wöchnerinnen. Bei Kolletschka drang es durch den verletzten
Finger in das Blut, bei den Wöchnerinnen während der Geburt
dnrch die bei diesem Vorgang verletzten Leibesteile. Der Anatom
hatte sich das Gift selbst in den Körper gebracht, den Gebärenden
sührten es Finger zu, die mit faulenden Stosfen in Berührung
gekommen waren. Eine auffallende, bisher unerklürte Thatsache
sand darin ihre einfache Erklärung. Die beiden Abteilungen des
Wiener Gebärhauses, obwohl unter einem Dache gelegen, wurden von
der Seuche ungleich häufig und heftig heimgesucht, sie wählte mit
Vorliebe die Abteilung für den Unterricht der Aerzte und verschonte
die für den Unterricht der Hebammen. Die Erklärung lag nunmehr
nahe: die Mediziner beschäftigten sich mit anatomischen Studien
im Leichenhanse, die Hebammen nicht. Auf diese Erwägung gestützt,
wurde fortan niemand zu Untersuchungen auf der Klinik zugelassen,
der sich nicht vorher die Hünde sorgsältig mit Chlorkalklösung gereinigt
hatte; sie galt damals für das beste desinfizierende Mittel, wir besitzen
hente noch wirksamere. Die Sterblichkeit nahm darauf ab.

Die Annahme lag nahe, daß nicht bloß das faulige Gift aus
Leichen die Seuche verschulde, es konnte ebensogut aus eiternden
Wunden nnd Geschwüren von pflegenden Händen den Gebärenden zu-
 
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