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Lachen links: das republikanische Witzblatt — 1.1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.8803#0254
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Ihr Richter auf den Tribünen!

Ihr Richter auf den Tribünen der Staaten, die ihr Gesetze biegt und weitet wie einen vertragenen Rock, ihr Bürger, die ihr
selbstbewußt auf die Verurteilten herabschaut, könnt ihr nicht mehr sein als gerecht? Gewiß habt ihr niemals ein Gefängnis gesehen:
ihr wart gut darauf bedacht, es weit aus dem Gesicht eurer Tage zu rücken. Lättet ihr es nur eine Stunde betreten! — Wenn
euch aber der Zufall an seinen aussätzigen Mauern vorüberführt und ihr euch vorstellen würdet, daß von diesen tausend Gefangenen,
von diesen hundert Gefangenen nur ein einziger unschuldig wäre — würdet ihr es ertragen, noch mit aufgeschlagenen Augen an
das weiße Tuch euerer Tische zu treten? Eure Kinder zu küssen? Die Frauen anzulächeln? Während jene mit geschorenem Laupt
und verklammten Länden Körbe flechten, Wolle zupfen, Steine zerschlagen: starkknochige Männer, Wahnsinnige, Greise, junge Weiber

mit stoßenden Lüften, ihre erstickenden Körper in einem Wasser
badend, das von saurem Schweiß und Lautschorf beschmutzt ist,
x js , in eine Kiste geschlossen Gebete plärrend,

durch eine finstere Wand vom Antlitz des
Bruders getrennt; verdammt, niemals
den bewegten Limmel zu atmen, niemals
mit den Füßen über eine leuchtende Wiese
zu gehen, mit diesen Füßen, die uns die Erde
für ein langes Leben gemacht hat; während
durch ihre Gedanken die unendliche Landschaft her-
\ %.&>’ einkommt: Straßen, Fluß, Brücke, Jahrmarkt, der Feier-

abend in der Fabrik, ein Spaziergang mit Mädchen, mit gekrümmten Finger an
die Wand ihrer Zelle klopfend, aus Jahren des Sterbens, unter dem trockenen
Seufzen des Mundes, der einen leisen Wind über ihr Gesicht führt, durch die
Nacht ihrer Sträflingshäuser nach einem menschlichen Rainen zu rufen — wenn

auch nur ein einziger.würdet ihr es ertragen? — Wer aber i st

schuldig? — Labt ihr nicht den Lungernden das Fleisch und das Brot
genommen? Waren eure Aecker und Wiesen nicht Diebstahl an den Armen,
die ihr Eigentum zurückheischten, als sie in eure — ihre — Läufer einbrachen?
Schloßt ihr sie nicht aus von euren Begierden, nach deren Erfüllung es sie
nicht weniger verlangte; deren Mord nichts war als ihr verzweifeltes Glück?
Verstießet die Mütter, die wider das Gesetz geboren hatten, gabt ihnen
Branntwein und rötliche Gifte, sich zu berauschen — ihr gerechten Tot-
schläger in den Guishäusern und Bürgerstuben, habt acht, daß
nicht jene, die ihr in einen vergitterten Käfig sperrt, die ihr hin-
gerichtet und in einer Erdgrube mit Kalk übergossen habt, zrun
Ankläger werden wider euch. — Die Gerechtigkeit ist grau-
am. Ist sie nicht auf Gewalt begründet? Ihr habt Mitleid
mit Tieren. Was aber ist euch der Mensch? — Gerecht
sein: ist wenig. Milde sein: ist mehr. Verzeihen: alles. —

— O ihr Sträflinge auf den Klagebänken, wütet nicht gegen
eure Richter! Bald werdet ihr selbst zu Gericht sitzen
über sie, die euch verworfen haben: furchtbar, verheißungs-
voll, gewaltig werdet ihr auferstehen - ihr gütigen
Lenker der Seele.

A r in i n T. W e g n e r.

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Lebte Kant heute, er würde aus seinem Wort, daß es nicht lohne zu leben, wenn es keine Gerechtigkeit gibt, die Konsequenzen
ziehen, — vorausgesetzt, daß ihm in Deuischland eben diese Konsequenzen nicht aufgenötigt würden.
 
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