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Lachen links: das republikanische Witzblatt — 1.1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.8803#0630
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Der Erfinder des Flaschenbier-Perspektivs!

Herr Dr. Gustav Stresemann hatte die Liebenswürdigkeit, unserem L.L.-Mitarbeiter über seine
epochale Erfindung nachstehende Auskunft zu erteilen:

Meine Erfindung des Flaschenbier-Perspektivs bewegt sich auf der Linie,
die ich im Jahre 1902 mit meinem tiefschürfenden wissenschaftlichen Werk „Die
Entwicklung des Berliner Flaschenbiergeschäfts” (Verlag von R. F. Funke, Berlin)
eingeschlagen und seitdem in gradlinigem Zickzachkurs weiter verfolgt habe.
Ich schrieb damals:

Unter einem Flaschenbiergeschäft werden wir ein Unternehmen zu verstehen
haben, welches sich mit dem Vertrieb von auf Flaschen gefülltem Bier abgibt.

Heute kann ich ergänzend hinzufügen:

Unter einem Flaschenbier-Perspektiv werden wir ein Perspektiv zu verstehen
haben, welches aus durch vom Krämer geholten Bindfaden miteinander verbun-
denen leeren Bierflaschen besteht.

Und wenn ich weiter im Jahre 1902 die markanten Zeilen schrieb:

Die Vorbedingung jedes Flaschenbiervertriebs ist die Möglichkeit des Abzugs
von Bier auf Flaschen,

so füge ich heute als Kertj^rinzip meiner weltumstürzenden Erfindung hinzu:
Die Vorbedingung meines Flaschenbier-Perspektivs ist die Möglichkeit des Aus-
trinkens von auf Flaschen abgezogenen Bieren.

Da nun unzweifelhaft das deutsche Volk im Austrinken von auf Flaschen abgezogenem Bier allen Nationen
der Welt vorangeht, so ist meine Erfindung eine national-germanische und geeignet, Deutschland wieder in der
Welt voranzubringen. Der deutsche Rekord an leeren Bierflaschen wird sich hier segensreich auf Kinder und Kindes-
kinder auswirken.

Leider mußte ich im Jahre 1902 noch konstatieren, daß unser deutsches Volk dem Problem der leeren Bier-
flasche völlig hilflos gegenüberstand. Ich schrieb damals:

Die Hausfrauen und Dienstmädchen machen sich in vielen Fällen gar kein Gewissen daraus, die Bierflaschen zu
allen möglichen Zwecken zu gebrauchen, sie holen Spiritus, Oel, Fleckwasser usw. darin. Am tollsten geht es auf
den Bauten zu, da wird die Flasche oft, wenn sie ausgetrunken ist, einfach auf den Boden geworfen, ob sie dabei
entzweigeht oder nicht, ist ganz gleichgültig.

Dieser marxistische Raubbau an unserm heiligsten Nationalvermögen hat mich zum Nachgrübeln veranlaßt, wie
eine bessere Verwendung der leeren Bierflaschen zu erreichen sei. Zunächst arbeite ich an einer Stresemann-Bier-
flasche, die beim Umfallen nicht entzweigeht.

An mir selber erprobte ich, daß man oft Umfallen kann, ohne den geringsten

Schaden zu nehmen.

Aber meine ersten Versuche führten mich bald weiter. Ich hatte mir eines Abends als Experimentiermaterial
drei Kasten Versandbier kommen lassen und - in Gedanken vertieft - nach und nach alle drei Kasten, zusammen
90 Flaschen, ausgetrunken. Als ich die letzte gerade leerte, schlug es Mitternacht, ich hörte Glockenläuten, Böller-
schüsse und Geschrei — jetzt erst fiel mir ein, daß es die Silvesternacht war.

Und - ich weiß nicht, woher mir der Einfall kam - mit einem Male hielt ich vor jedes Auge eine leere Flasche
und versuchte, wie durch ein Perspektiv hindurchzuschauen. Aber fast entsetzt taumelte ich zurück:

Durch mein Flaschenbier-Perspektiv erblickte ich die Zukunft!

Ich hatte, ohne es zu ahnen, den Zukunftsblicker erfunden. Ich bemerke, daß Sie zweifeln. Aber glauben Sie
mir: wie hätte ich es je zum Reichskanzler und Minister gebracht, wenn ich nicht jedes Jahr einmal mein Flaschen-
bier-Perspektiv zu Rate ziehen könnte?

Denn das ist noch der vorläufige Fehler meiner Erfindung: sie funktioniert nur in der Silvesternacht und nach
Genuß von drei Kasten, die gefüllt sind, mit von auf aus Glas hergestellten Flaschen gezogenem Bier!

Hier beendete Herr Stresemann seinen hochinteressanten Vortrag. Er habe leider noch wichtige Arbeit, er müsse
die Liste der Briefe und Gespräche vervollständigen, an die er sich nicht mehr erinnern könne.

Bei dem sehr herzlichen Abschied von unserm L. L.-Sonderberichterstatter stürzte Herr Stresemann über eine
Teppichkante. Er erhob sich aber mit Leichtigkeit, ehe unser Berichterstatter ihm noch beispringen konnte, und
lächelte diskret: „O, darin hab ich Hebung!"

Zwei leere Bierflaschen mit eigenhändiger Widmung des Herrn Stresemann auf der Etikette durfte unser Bericht-
erstatter mitnehmem. Der von Herrn Stresemann aufgeschriebene Sinnspruch lautet:

Deutsches Volk, ehre deine leeren Flaschen!

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