Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Erich Weinert: Das Coupe

Die Platzangstdame rutscht unablässig
Den Herren links und rechts in die Flanken.

Der eine hält sich vornehm in Schranken,

Mit einem Gesicht wie gefrorener Essig.

Seine Hand ruht lässig im grauen Leder.

Man fühlt: Er ist nicht All und Jeder.

Auf der andern Seite sitzt eine Sommerweste,

Die erhebt sofort gegen alles Proteste;

Und außerdem macht sie sich dadurch beliebt,

Daß sie unauffällig Auf stoßen übt.

Ein Herr mit dem Profil eines Landjägers
Und Hutpinsel im Format eines Handfegers,

Betrachtet mißliebig und mit Verdruß
Eine Dame mit östlichem Habitus.

Was dann in der Ecke noch übrig bleibt,

Ist eine sächsische Naturerscheinung,

Die natürlich sofort ihr Unwesen treibt
Mit ihrer unmaßgeblichen Meinung.

Der sächsische Herr erklärt mit Gewicht
Der Dame mit dem Eisenbahnunglücksgesicht:
Die Unglücke kämen von der Regierung,

Vom Versailler Vertrag und der Dawesierung.
Da kommt auch der andere Herr in Laune
Mit dem Handfeger auf dem Dachgeschoß,

Er schnauft wie ein verschnupftes Roß
Und bricht eine Redeblüte vom Zaune:

Da wollten die Juden bloß dran verdienen!
Die Dame aus Osten kaut Apfelsinen.

Anläßlich der Hochwasserkatastrophen trat
man auch in der Umgebung des Reichs-
präsidenten zusammen, um einige Ent-
schlüsse zu fassen. — „Vielleicht wäre es
angebracht“, soll der Reichspräsident
gesagt haben, „wenn ich in einem Briefe
meine scharfe Gegnerschaft zum Auf-
treten des Hochwassers zum Aus-
druck brächte?“ — „Ist nicht
nötig, Exzellenz, ist nicht nötig!“
bedeutete man ihm. — Am
andernTagebesagten Zeitungs-
nachrichten ein neues kata-
strophales Anschwellen des
Hochwassers. Da soll ein
Adjutant einem Kollegen
zugeflüstert haben: „Ich
glaube, Exzellenz hat

gestern doch
’n Brief
schrieben!“

noch

Se~

Dies
hat sich
neulich in
der Tertia
eines Berliner
Gymnasiums ab-
gespielt: — Man repe-
tierte zum Geschichts-
unterricht Luthers Stel-
lung im Bauernkrieg. —

,WelcheVorteile erwarb Luther
für sich und seine Lehre dadurch,
daß er sich in den fürchterlichen
Kämpfen voll und ganz auf die Seite
der Fürsten gestellt hatte?“— „Erwurde
in den Verwaltungsrat der Reichsbahn
gewählt“, sagte der Schüler Meyer aus dem
Schlafe emporschreckend.

Der Aristokrat lächelt diskret.

Wie nur ein Aristokrat zu lächeln versteht:

Ihm seien authentische Quellen erschlossen.

Die meisten Eisenbahnunglücksfälle
Sind natürlich gemacht von den Herrn „Genossen“.

Also, wie gesagt, aus sicherster Quelle!

Der Sommerweste kommt das wie gerufen;

Sie fängt politisch an zu vesuven.

Die Platzangstdame mischt sich nun auch mit ein
Mit jüdischem Kapital und gelockerten Schienen.

Und man sollte sich schämen, kein Deutscher zu sein.
Die Dame aus Osten kaut Apfelsinen.

Der pensionsberechtigte sächsische Mann
Knüpft seine unmaßgebliche Meinung dran:

Die gutmiedjn Deudschn häddn geen Muhd,

Weil da geener richdch durchgreifn duhd!

Die Sommerweste sieht schon ganz blaurot aus.
Der Handfeger kommt in wedelnde Schwingung.
Das Makkohemd stellt eine Bedingung:

Vor allem missdn die Judn raus! —

In Swinemünde stiegen sie alle aus.

Auf dem Bahnsteig hab’ ich sie noch geseKn
In seelischer Umarmung zusammensteh’n. —
Und ein solches Volk sollte untergeh’n?

350
 
Annotationen