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Geister-Szene aus dem Neichswehrministerium

In einer Ecke des ReichöwehrminifteriumS, auf einem kalten
Heizkörper der Zentralheizung, faß zusammengekauert zu nächt-
licher Stunde die Tradition. Sie hatte den nicht mehr ganz
sauberen Talar fest um sich gezogen, denn sie fror schrecklich
und sah auch ziemlich leidend aus. Ihre Seufzer hallten
melancholisch durch die leeren Korridore und weckten den Geist
der Republik, der in einem Winkel neben der Kellertreppe in
einem emeritierten Aktenschrank hauste.

„Das ist doch wieder die Tradition, das alte Aas", gähnte
er und reckte sich vorsichtig, um sich nicht den Kopf an der Schub-
lade einzustoßen. „Die kann natürlich wieder nicht schlafen
und muß mit ihrem Gezeter andere Leute stören. Schrecklich,
diese Schlaflosigkeit! Mir überhaupt völlig unverständlich!
Ich kann Tag und Nacht schlafen, und wenn ich aufwache, bin
ich immer noch müde." — Er öffnete die Schranktür ein
wenig und lugte hinaus. Es war stockdunkel.

„Eigentlich möchte ich sie mir zu gern einmal anfehen", dachte
der Geist der Republik, „was sie wohl macht? Sie ist doch
schließlich auf jeden Fall eine bedeutende Persönlichkeit", setzte
er hinzu, „ich meine, gerecht muß man sein."

Mit diesem kleinen Abstecher in das Gebiet großherziger
Denkweise, auf dem er große Fähigkeiten besaß, kletterte er aus
dem Schrank und bewegte sich lautlos wie Winnetou auf dem
Schleichpfade eine Treppe hinauf und schwebte durch die Korri-
dore. Er blickte mit äußerster Vorsicht um sich und schrak
mehrere Male bei kleinen Geräuschen heftig zusammen, denn,
das wußte er, wenn die Wache ihn bemerkt hätte, hätte sie ihn
sofort hinauSgeschmisten. So kam er in den Gang, in dem die
Tradition noch immer vor sich hin räfonnierte, und lugte behut-
sam um die Ecke. Im gleichen Augenblicke hob jedoch auch die
Tradition ihren Kopf, und unter heftigem Zusammenzucken
trafen sich ihre Blicke. — Die Tradition wählte sich, geistes-
gegenwärtig, unter ihren erhabenen Kriegserinnerungen einen
planmäßigen Rückzug aus und
bezog die vorbereiteten Stellun-
gen, d. h. sie verschwand lautlos
hinter der Zentralheizung, wäh-
rend der Geist der Republik, der
von jeher der Anschauung gehul-
digt hatte, daß die sinnlose Zer-
störung des Alten, Überkomme-
nen, Bewährten vom Übel sei,
sich mit eindrucksvoller Ge-
schwindigkeit hinter ein Treppen-
geländer bückte, um sich nicht
später Vorwürfe machen zu
müssen, daß er sich von seinem
Zorn habe Hinreißen lassen.

Ale sie nach einigen Augen-
blicken beide glaubten, ihren Un-
gestüm fest im Zügel zu haben,
kam die Tradition hinter der
Heizung hervor und sagte ruhig
(nur ihre Knie zitterten noch vor
Kampfeslust):

„Treten Sie näher, Ver-
ehrtefter, Sie brauchen nicht zu
befürchten, daß ich Ihnen etwas
tun werde."

Der Geist der Republik, der
sich inzwischen auf seine gloreiche
Zukunft besonnen hatte, wollte
antworten: „Ha! Sie können
nur froh sein, daß i ch Ihnen
nichts tue!" Aber er nahm davon
Abstand, indem er erwog, daß
die Tradition es womöglich dar-
auf ankommen lassen könnte. So
trat er heraus und richtete nur
folgende Worte an sie:

„Es ist mir eine hohe Freude und Genugtuung, Sie, meine
sehr verehrte Tradition, begrüßen zu können. Ich bitte Sie,
Ihnen meine Bewunderung aussprechen zu dürfen für die herr-
lichen Ruhmestaten, die Sie, meine sehr verehrte Tradition,
im Dienste unseres Volkes aneinandergereiht haben. Ihr
Name gehört der Weltgeschichte an. Unserer gemeinsamen
Arbeit, Hand in Hand, wird eö gelingen, unser geliebtes Vater-
land, aufbauend auf einer herrlichen Vergangenheit, einem
neuen Aufstieg entgegenzuführen!"

Über das ehrwürdige Antlitz der Tradition war ein Zug der
Erleichterung geglitten.

„Und vor diesem vollkommen harmlosen Kerl", dachte sie
kopfschüttelnd, „vor diesem guten Kerl bin ich hinter die
Zentralheizung gegangen!" — Sie nickte ihm freundlich zu,
rückte etwas beiseite und sagte:

„Setzen Sie sich doch her zu mir aufs Fensterbrett!"

„Es ist doch eine fabelhaft bedeutende Persönlichkeit!" dachte
der Geist der Republik. „Ich finde es überhaupt lächerlich, daß
man für gewöhnlich alles durch die Parteibrille ansieht. — Sie
sehen sehr leidend aus?" wandte er sich dann an die Tradition.

„Kunststück!" hustete diese, „wenn man nie seine Ruhe be-
kommt. Von jedem Kamel muß ich mich so und so oft am
Tage zitieren lassen! Wenn der Oberst Knackdorf mit sechs
Kameraden das Kasino belagert, Herr, und den Gegner durch
seine Unterhaltung kampfunfähig macht — ich muß zuhören,
wenn der Feldwebel Brösicke einen Frontalangriff von fünf
Mann auf die Entlausungsanstalt leitet, — auf mich wird
hingewiesen, Ihnen gesagt, wenn der Hauptmann von Sowieso
feststellt, daß die Latrinen wieder mal verstopft sind, — ick
werde herangeschleift, wenn der Unteroffizier Katschmarek dann
beschwört, die seien schon seit Friedrich dem Großen verstopft, —
ich muß das bezeugen. Und dann, zum Himmeldonnerwetter!
wenn der General Klack von Klackenborn eine Gedenkrede

hält und alles darf bewußtlos
werden, — nur ich muß — bei
meinen Jahren — verdammte
Schweinerei . . .!"

Hier geriet die Tradition in
eine solche Wut, daß sie einen
knallroten Kopf und einen
schrecklichen Huftenanfall bekam.

Aber der Geist der Republik
fing an zu weinen:

„Ach, es ist belämmert!"
klagte er, „Sie können überall
dabei sein, überall holt man Sie
hin, und ich — — "

„Da habe ich eine Idee",
sagte die Tradition nachdenklich,
„ich werde Ihnen mal meinen
Talar borgen, dann können Sie
statt meiner die Begeisterung
Hervorrufen! Auf diese Weise
bekomme ich wenigstens etwas
Ruhe."

Na, das haben denn die bei-
den auch getan.

Der Geist der Republik nahm
den Talar und zog an Stelle der
Tradition los. Und fröhlich
kehrte er jeden Abend zurück,
hängte den Talar an einen
Laternenlichtstrahl, schlug die
Tradition kräftig auf die Schul-
ter und lachte ausgelassen:
„Mach' ich das nicht glän-
zend? Nee, die dummen Luder,
die dummen Luder! Kein Aas
merkt, daß ich das bin!"

Der KolonialkapitaliSmuS ist wieder einmal vollkommen
auf der Höhe der Situation.
 
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