Die Zustände der Graubündner He.
Einzelne Celtenstämme, die im Sturm der Kriege und Völkerwande-
rungen unvertilgt geblieben sind; Nachkömmlinge der Allemannen, Flücht-
linge auS dem Tuskerlande, Zurückgebliebene von den Römerheeren,
schwäbische Colonisten aus späterer Zeit, sehen wir nebeneinander wohnend
und wenn durch das gemeinsame Zusammenleben anderwärts die ur-
sprünglichen Züge verschiedener Stämme sich verwischten und ein allge-
meines Gepräge angenommen haben, so stellten sich hier alle erdenkbaren
Hemmnisse entgegen durch die oft unüberstciglichen Scheidewände zwischen
den einzelnen Thalschaften, durch die starre Festhaltung alten Herkoinmens,
durch das Vereinzelungssystem der ganzen Landesverfassung.
Wie in ihrer Herkunft sind die Graubündner auch ungleich in ihrem
äußeren Wesen und in ihren Sitten. Nur wenige Züge lassen sich daher
als allgemein bezeichnend andeuten. —
Charakteristisch bei dem Volke in Graubünden, selbst auf der Nord-
seite der Alpen, ist vor Allem der warme Anflug eines südlicheren Charak-
ters, der uns hier sogleich auffällt. Man trifft zwar im vorderen
Rheinthale, in einzelnen Thälern die von den Walsern, den deutschen
Colonisten, bewohnt sind, blonde, hochkrästige und stämmig-breite Gestalten,
kerndeutsche Figuren. Aber im Allgemeinen merkt doch der Reisende, so-
bald er nur nach Chur kömmt, daß er sich hier auf der Schwelle Italiens
befindet und mit trunkenem Vorgefühl ahnt er die Nähe des geliebten
und gelobten Landes.
Die brünetten Tinten fallen sogleich auf. Die Leute mit ihren brau-
nen Gesichtern, schwarzen, meist krausen Haares, mit ihren dunkeln Augen,
von buschigten Braunen stark überschattet, und scharf markirten Zügen,
an die keck und frei herausgeschnittenen malerischen Köpfe der Italiener
erinnernd, sehen ganz anders aus, als die schweizer Bauern. Braun
von Augen und Gestalt tritt Einem der Landmann entgegen, wenn er im
dunklen Sonntagsstaate zu Chur erscheint. Unter den Landmädchen sind
selbst den Blondinen, die sonnenwarmen Farben des brünetten Charakters
eigen.
Namentlich hinter Chur, im Domleschgerthale, in Thusis haben die
Bauern mit ihren spitzigen Hüten und Schooßjacken schon etwas ganz
Ztalienisches; mit der südlicheren Natur beginnt hier auch der südlichere
Charakter in der Bevölkerung, wie denn die Leute in den italienischen Thä-
lern des Kantons, jenseits der Berge, mit Leib und Seele Ztaliener sind.
Am nördlichen Fuße des San Bernardino dagegen, im wilden Rhein-