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Endlich kann man noch eine Regel für den Inhalt aufstellen,
die sich mit dem Verbot des Langweiligen berührt, ohne aber
damit zusammenzufallen. Das ist nämlich die, dass die Poesie
keinen zu eintönigen Inhalt wählen darf. Dies ist keine all-
gemeine Kunstregel, denn von einem Gemälde z. B. verlangen wir
unter allen Umständen Einheit der Stimmung. Alles auf ihm soll
das Gefühl in dieselbe Richtung lenken. Es ist vielmehr eine
Regel, die nur für die Künste des Geschehens gilt. Besonders für
die Dichtkunst. Wenn ein Dichter immer in dieselbe Kerbe haut,
uns z. B. in einer Tragödie stundenlang dasselbe Elend vorführt,
so ist das deshalb hässlich, weil wir dadurch gegen den Reiz der
Illusion abstumpfen. Da die Illusion eine Selbstthätigkeit unserer
Seele voraussetzt, so ermüden wir natürlich, wenn wir uns stunden-
lang in derselben Richtung in Illusion versetzen, uns dieselbe Art
von Inhalt phantasiemässig vorstellen sollen. Und gerade in der
Tragödie ist das besonders gefährlich, weil ein unangenehmer Inhalt
uns wahrscheinlich auf die Dauer noch mehr abstumpft als ein an-
genehmer. Das einzige Mittel dies zu vermeiden ist der Wechsel,
und die Poetik lehrt uns die Mittel kennen, wie dieser zu erzeugen
ist. Ich bin der Ansicht, dass die Nichtbeachtung dieser Regel eine
der Hauptschwächen des übertriebenen Naturalismus ist, und die
heftige Reaktion gegen diese an sich historisch notwendige Richtung
ist wesentlich mit daraus zu erklären. Das Niederdrückende vieler
modernen Dramen beruht nach meiner Überzeugung nicht auf der
traurigen oder grässlichen Natur des Inhalts — denn die haben wir
ja auch bei Shakespeare —, sondern darauf, dass infolge mangelnden
Wechsels die traurigen Bilder zu eintönig und gleichartig auf den
Zuschauer einstürmen, um bis zum Schluss lebhaft und energisch
mitgefühlt werden zu können. Der Zuschauer ist eben dann nicht
im stände, den Wechsel der Vorstellungsreihen so lebhaft zu voll-
ziehen, wie das die bewusste Selbsttäuschung fordert. Und es ist
klar, dass, sobald das der Fall ist, der Inhalt als solcher sich im Be-
wusstsein ungebührlich vordrängt und den Genuss unmöglich
macht. Der befriedigende und erhebende Eindruck einer guten
Tragödie stammt wie ich glaube keineswegs von der gleichmässig
oder wenigstens endgültig befriedigenden Natur ihres Inhalts, son-
dern von jener harmonischen Mischung inhaltlicher Elemente, die
geeignet ist, das lebhafte und lustvolle Spiel der Vorstellungen
zu erzeugen, das wir als den Kern des ästhetischen Genusses
ansehen.
 
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