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CARPACCIOS LEBENSLAUF
phantastischen Landschaften oder in sich verschlossenen Innenräumen, darin flutendes Sonnenlicht
sein eigenes Leben führt. Menschen bewohnen sie, die von starken Leidenschaften oder Erschütte-
rungen kaum berührt zu sein scheinen; Leid und Tragik äußert sich nur in den gedämpften Tönen
stiller Trauer, verhaltenes Gefühl findet gemessenen Ausdruck. Selbst über dem festlichen Prunk
ihres höfischen Zeremoniells liegt es noch wie ein heimlicher Schatten gebreitet. Wohl tragen sie
das venezianische oder morgenländische Gewand der Zeit des Künstlers, wohl gehört ihr Dasein in
tausend Einzelheiten einer bestimmten geschichtlichen Epoche an. Aber eben doch nur in Einzel-
heiten: als Ganzes ist diese Welt der fließenden Zeit enthoben, ein geträumtes Venedig, ein Orient
wie aus Tausend- und Einer-Nacht. Mit der sanften Überzeugungskraft des Märchens, einer in sich
selbst vollendeten Schöpfung der Phantasie, zieht sie uns in ihre überhöhte Wirkliclikeit.
Hinter seinem Werk, das wir durch annähernd vier Jahrzehnte zu überschauen vermögen, scheint
Vittore Carpaccio als Mensch gleichsam zurückzutreten. Gelehrte Forschung hat eine Reihe von
Dokumenten über ihn aus den Archiven gezogen; doch was sie auszusagen haben, gibt kaum mehr
als den Umriß eines Lebens und persönlichen Schicksals. 1 Danach entstammte der Künstler einem
alteingesessenen venezianischen Geschlecht von Fischern und Seefahrern, Carpaccio oder Scarpazza
genannt, die seit dem 13. Jahrhundert auf der kleinen Insel Mazzorbo bei Burano genannt werden.
Bereits während des Trecento siedelte jener Zweig, dem die unmittelbaren Vorfahren angehörten,
in die Hauptstadt selbst über, wo der Vater Piero dann das Gewerbe eines Kürschners betrieb. Erstmals
erscheint hier der Sohn Vittore am 21. September 1472 im Testament eines Onkels Zuane genannt,
der als Mönch den Namen Fra Ilario führte. Auf das Jahr seiner Geburt lassen sich aus dieser Erwähnung
keine Rückschlüsse ziehen 2; dagegen legen die ersten, noch jugendlich anmutenden Werke seiner
Hand, welche zwischen 1480 und 1485 entstanden sein müssen, die Annahme nahe, der Künstler sei
im Jahrfünft zwischen 1460 und 1465 zur Welt gekommen. Im Jahre 1486 überbringt Vittore Car-
paccio den Prokuratoren de Supra im Auftrag seines Vaters die schuldige Miete für Laden oder
Wohnung, welche dieser an den Prokuratien von San Marco innehatte. Dann hören wir erst 1501
wieder von ihm, als man ihm Zahlungen für ein Gemälde leistete, dem ein Platz über dem Thronsessel
der Sala dei Pregadi im Dogenpalast bestimmt war; es ist uns heute verloren, und wir wissen auch
nichts von seinem Inhalt. Wenige jahre später - 1507 - zog man Carpaccio hinzu, als es galt, unter der
Oberleitung des greisen Giovanni Bellini im gleichen Palaste den Bilderzyklus des Großen Ratssaales
zum Abschluß zu bringen. Von den Historien, welche Kaiser Barbarossas Konflikt mit dem Papste
behandelten - bei dessen endlicher Beilegung spielte die venezianische Republik legendärer Über-
lieferung nach eine entscheidende Rolle - scheint unser Künstler zwei Szenen ausgeführt zu haben.
Durch den großen Brand des Jahres 1577 sind sie zugrundegegangen; nur zwei Zeichnungen, die
ihrer Vorbereitung dienten, vermögen noch eine gewisse Vorstellung von der Komposition eines
dieser Gemälde zu vermitteln. 3 Daß Carpaccio gewürdigt ward, an so hervorragender Stelle und an
den wichtigsten Aufträgen, welche die Republik zu vergeben hatte, mitzuwirken, zeigt zur Genüge,
daß er Ansehen und Anerkennung genoß. Was er in der Scuola di Sant'Orsola und in San Giorgio
I. Vgl. die Zusammenstellung der biographischen Daten S. 49.
2. P. Molmenti u. G. Ludwig, Carpaccio (englische Ausgabe
London 1907, S. 20) haben aus der Tatsache, daß in Venedig die
Berechtigung, eine Erbschaft anzutreten, an die Vollendung des
fünfzehnten Lebensjahrs gebunden war, schließen wollen,
Vittore Carpaccio müsse um das Jahr 145$ geboren sein.
Demgegenüber weist Pignatti (Carpaccio, 1955, S. 176) mit Recht
darauf hin, daß in diesem Testament nur von einer Einsetzung als
präsumptiver Erbe gesprochen wird, daß dies jedoch keineswegs
die Möglichkeit einer sofortigen freien Verfügung über dieses
Erbe zu bedeuten brauche. Aus der Erwähnung des Namens läßt
sich demnach nur schließen, daß Vittore Carpaccio 1472 am
Leben war.
3. Vgl. S. 41 f. und Kat. Z. Nrn. 49 r und 31 r.
CARPACCIOS LEBENSLAUF
phantastischen Landschaften oder in sich verschlossenen Innenräumen, darin flutendes Sonnenlicht
sein eigenes Leben führt. Menschen bewohnen sie, die von starken Leidenschaften oder Erschütte-
rungen kaum berührt zu sein scheinen; Leid und Tragik äußert sich nur in den gedämpften Tönen
stiller Trauer, verhaltenes Gefühl findet gemessenen Ausdruck. Selbst über dem festlichen Prunk
ihres höfischen Zeremoniells liegt es noch wie ein heimlicher Schatten gebreitet. Wohl tragen sie
das venezianische oder morgenländische Gewand der Zeit des Künstlers, wohl gehört ihr Dasein in
tausend Einzelheiten einer bestimmten geschichtlichen Epoche an. Aber eben doch nur in Einzel-
heiten: als Ganzes ist diese Welt der fließenden Zeit enthoben, ein geträumtes Venedig, ein Orient
wie aus Tausend- und Einer-Nacht. Mit der sanften Überzeugungskraft des Märchens, einer in sich
selbst vollendeten Schöpfung der Phantasie, zieht sie uns in ihre überhöhte Wirkliclikeit.
Hinter seinem Werk, das wir durch annähernd vier Jahrzehnte zu überschauen vermögen, scheint
Vittore Carpaccio als Mensch gleichsam zurückzutreten. Gelehrte Forschung hat eine Reihe von
Dokumenten über ihn aus den Archiven gezogen; doch was sie auszusagen haben, gibt kaum mehr
als den Umriß eines Lebens und persönlichen Schicksals. 1 Danach entstammte der Künstler einem
alteingesessenen venezianischen Geschlecht von Fischern und Seefahrern, Carpaccio oder Scarpazza
genannt, die seit dem 13. Jahrhundert auf der kleinen Insel Mazzorbo bei Burano genannt werden.
Bereits während des Trecento siedelte jener Zweig, dem die unmittelbaren Vorfahren angehörten,
in die Hauptstadt selbst über, wo der Vater Piero dann das Gewerbe eines Kürschners betrieb. Erstmals
erscheint hier der Sohn Vittore am 21. September 1472 im Testament eines Onkels Zuane genannt,
der als Mönch den Namen Fra Ilario führte. Auf das Jahr seiner Geburt lassen sich aus dieser Erwähnung
keine Rückschlüsse ziehen 2; dagegen legen die ersten, noch jugendlich anmutenden Werke seiner
Hand, welche zwischen 1480 und 1485 entstanden sein müssen, die Annahme nahe, der Künstler sei
im Jahrfünft zwischen 1460 und 1465 zur Welt gekommen. Im Jahre 1486 überbringt Vittore Car-
paccio den Prokuratoren de Supra im Auftrag seines Vaters die schuldige Miete für Laden oder
Wohnung, welche dieser an den Prokuratien von San Marco innehatte. Dann hören wir erst 1501
wieder von ihm, als man ihm Zahlungen für ein Gemälde leistete, dem ein Platz über dem Thronsessel
der Sala dei Pregadi im Dogenpalast bestimmt war; es ist uns heute verloren, und wir wissen auch
nichts von seinem Inhalt. Wenige jahre später - 1507 - zog man Carpaccio hinzu, als es galt, unter der
Oberleitung des greisen Giovanni Bellini im gleichen Palaste den Bilderzyklus des Großen Ratssaales
zum Abschluß zu bringen. Von den Historien, welche Kaiser Barbarossas Konflikt mit dem Papste
behandelten - bei dessen endlicher Beilegung spielte die venezianische Republik legendärer Über-
lieferung nach eine entscheidende Rolle - scheint unser Künstler zwei Szenen ausgeführt zu haben.
Durch den großen Brand des Jahres 1577 sind sie zugrundegegangen; nur zwei Zeichnungen, die
ihrer Vorbereitung dienten, vermögen noch eine gewisse Vorstellung von der Komposition eines
dieser Gemälde zu vermitteln. 3 Daß Carpaccio gewürdigt ward, an so hervorragender Stelle und an
den wichtigsten Aufträgen, welche die Republik zu vergeben hatte, mitzuwirken, zeigt zur Genüge,
daß er Ansehen und Anerkennung genoß. Was er in der Scuola di Sant'Orsola und in San Giorgio
I. Vgl. die Zusammenstellung der biographischen Daten S. 49.
2. P. Molmenti u. G. Ludwig, Carpaccio (englische Ausgabe
London 1907, S. 20) haben aus der Tatsache, daß in Venedig die
Berechtigung, eine Erbschaft anzutreten, an die Vollendung des
fünfzehnten Lebensjahrs gebunden war, schließen wollen,
Vittore Carpaccio müsse um das Jahr 145$ geboren sein.
Demgegenüber weist Pignatti (Carpaccio, 1955, S. 176) mit Recht
darauf hin, daß in diesem Testament nur von einer Einsetzung als
präsumptiver Erbe gesprochen wird, daß dies jedoch keineswegs
die Möglichkeit einer sofortigen freien Verfügung über dieses
Erbe zu bedeuten brauche. Aus der Erwähnung des Namens läßt
sich demnach nur schließen, daß Vittore Carpaccio 1472 am
Leben war.
3. Vgl. S. 41 f. und Kat. Z. Nrn. 49 r und 31 r.