Gemälde
I:DIE BILDERZYKLEN FÜR VENEZIANISCHE
„SCUOLE"
SCUOLA DI SANT'ORSOLA
Die Gründung der Scuola di Sant' Orsola, deren Angehörige
sich Aufgaben der Wohltätigkeit, gegenseitiger Unterstüt-
zung und christlicher Devotion widmen wollten, fand am
15. Juli 1300 statt; ihre Schutzpatrone waren die Heiligen
Dominikus, Petrus Martyr und Ursula. Unter den Mit-
gliedern, Männern und Frauen adeßger wie bürgerlicher
Herkunft, werden als besondere Gönner und Wohltäter die
Angehörigen der patrizischen Familie Loredan genannt. Im
Jahre 1306 überließen die Dominikaner von SS. Giovanni
e Paolo der Scuola eine im Bezirke des Friedhofs ihrer
Kirche liegende Kapelle als Versammlungsort. Molmenti-
Ludwig (1907) haben diese in einem aufjacopo de' Barbaris
Stadtplan von 1500 unklar angegebenen niedrigen Bau
erkennen wollen, welcher auf der Südseite der Kirche an
deren Chor anschloß. Überzeugender als diese bisher
unwidersprochene These ist die Vermutung Pignattis (1955),
welcher eine auf dem gleichen Plan weiter südöstlich in der
Ecke des Friedhofs gelegene kleine Kapelle (Tafel xvi-b) als
das ursprüngliche Gebäude der Scuola ansieht: der einfache
Bau zeigt ein Rundfenster oben an der südlichen Schmal-
wand und einen mit Portikus versehenen Eingang im
Westen.
Daß der alte Bau nur einen einzigen Eingang besaß, geht aus
den Dokumenten hervor; einer Türöffnung an dieser Stelle
würde im Inneren der anscheinend ursprünglich vorhanden
gewesene Einschnitt in Carpaccios Bild des Empfangs der
Gesandten (Taf. 40) entsprechen. Damit fände die Anordnung
der Bilder Carpaccios, wie sie für die heutige Aufstellung in
der Akademie zu Venedig gewählt wurde, ihre Recht-
fertigung: die Erzählung beginnt „a cornu Epistolae", d.h.
auf der Wand rechts des Altars, vom Beschauer gesehen,
umzieht drei Wände der Kapelle, um mit der Grabtragung
der Heiligen (Taf. 14) links des Altars zu enden. Die umge-
kehrte Reihenfolge, wie sie Molmenti-Ludwig vorschlagen,
ergäbe Unstimmigkeiten und Schwierigkeiten sowohl für
das „Ablesen" der einzelnen Kompositionen wie auch für
den inneren Rhythmus des Ganzen und seine logische Folge:
die Episode der Grabtragung, mit welcher die Erzählung
schließt, würde dann nicht auf den Altar zielen, sondern dem
Martyrium vorausgehen und zudem in ihrer Bewegungs-
richtung sinnwidrig auf eine frühere Szene, die Landung in
Köln, zurückweisen. Für die heutige Anordnung spricht
ferner, daß ein durch das Rundfenster an der Südseite der
Kapelle gegebener Lichteinfall im Schattenschlag der ein-
zelnen Bilder seine Entsprechung findet.
Die in einer Kopie von 1359 erhaltenen ursprünglichen
Statuten („Mariegola") der Scuola wurden 1488 erneuert
und neu gefaßt; im gleichen Jahre beschloß man Sparmaß-
nahmen für den geplanten Bilderschmuck der „teleri de la
istoria de madona santa Orssola". Das erste Bild dieses
Zyklus trägt die Jahreszahl 1490. Die Chronologie der
undatierten Bilder ist umstritten, doch dürfte die Vollendung
des Ganzen in die Jahre um 1496-98 zu setzen sein.
Nach einem Dokument war das Gebäude der Scuola 1646
so baufällig geworden, daß man Maßnahmen zu sofortiger
Abhilfe als notwendig ansah. Anscheinend wurde damals ein
Neubau, Kapelle und „Albergo" enthaltend, an benachbarter
Stelle, neben der Apsis von SS. Giovanni e Paolo aufgeführt.
Eine 1647 datierte, über der Tür der erneuerten Scuola
angebrachte Inschrift besagte, daß das Gebäude „vetustate
consumptum collabens iterum fabricatum fuit". Entgegen
der bisher vertretenen Ansicht, an der auch Perocco (1960,
S. 40 f.) festhält, der alte Bau sei nur mit einigen Verände-
rungen wiederhergestellt worden, könnte das auch eine
völlige Neukonstruktion bedeuten; der von Martinioni
(Sansovino, Venetia Gitta Nobilissima, ed. Martinioni 1663,
S. 72) gebrauchte Ausdruck „rifatto" widerspricht solcher
Annahme nicht. Um die Bilder den gegen früher veränderten
Maßen der Wände und den über ihnen angebrachten
Fenstern anzupassen, wurden sie damals großenteils am
oberen Rande und auch seitlich beschnitten. Im Jahre 1752
führte Giuseppe Cortese eine durchgreifende Restaurierung
durch (vgl. Bemerkung bei Kat. Nr. 5).
Nachdem die Scuola 1810 durch ein Dekret Napoleons
aufgehoben worden war, kamen die Bilder kurz darauf in
die Sammlungen der venezianischen Akademie, wo sie sich
heute befinden. Das Gebäude der Scuola wurde während des
19. Jahrhunderts durch Umbauten und Veränderungen bis
zur Unkenntlichkeit seiner ursprünglichen Form entstellt.
Zur Geschichte der Scuola: Molmenti-Ludwig, Carpaccio (1907),
S. 56 ff. - Fiocco, Carpaccio (1930), S. 62, Bemerkung zu Taf. xxxn.-
V. Moschini, Carpaccio. Die Legende der heiligen Ursula. Sammlung
Silvana Bd.vn(deutsche Ausgabe), Zürich 1949. — Pignatti, Carpaccio
(i955)> S. 179 6. - Moschini-Marconi,Accademia (1955),Nr.95-103. -
T. Pignatti, in Venezia e l'Europa, Atti del XVIII Congresso Inter-
nazionale di Storia dell' Arte, Venezia, 1955 (1956), S. 224 ff.
(233)
I:DIE BILDERZYKLEN FÜR VENEZIANISCHE
„SCUOLE"
SCUOLA DI SANT'ORSOLA
Die Gründung der Scuola di Sant' Orsola, deren Angehörige
sich Aufgaben der Wohltätigkeit, gegenseitiger Unterstüt-
zung und christlicher Devotion widmen wollten, fand am
15. Juli 1300 statt; ihre Schutzpatrone waren die Heiligen
Dominikus, Petrus Martyr und Ursula. Unter den Mit-
gliedern, Männern und Frauen adeßger wie bürgerlicher
Herkunft, werden als besondere Gönner und Wohltäter die
Angehörigen der patrizischen Familie Loredan genannt. Im
Jahre 1306 überließen die Dominikaner von SS. Giovanni
e Paolo der Scuola eine im Bezirke des Friedhofs ihrer
Kirche liegende Kapelle als Versammlungsort. Molmenti-
Ludwig (1907) haben diese in einem aufjacopo de' Barbaris
Stadtplan von 1500 unklar angegebenen niedrigen Bau
erkennen wollen, welcher auf der Südseite der Kirche an
deren Chor anschloß. Überzeugender als diese bisher
unwidersprochene These ist die Vermutung Pignattis (1955),
welcher eine auf dem gleichen Plan weiter südöstlich in der
Ecke des Friedhofs gelegene kleine Kapelle (Tafel xvi-b) als
das ursprüngliche Gebäude der Scuola ansieht: der einfache
Bau zeigt ein Rundfenster oben an der südlichen Schmal-
wand und einen mit Portikus versehenen Eingang im
Westen.
Daß der alte Bau nur einen einzigen Eingang besaß, geht aus
den Dokumenten hervor; einer Türöffnung an dieser Stelle
würde im Inneren der anscheinend ursprünglich vorhanden
gewesene Einschnitt in Carpaccios Bild des Empfangs der
Gesandten (Taf. 40) entsprechen. Damit fände die Anordnung
der Bilder Carpaccios, wie sie für die heutige Aufstellung in
der Akademie zu Venedig gewählt wurde, ihre Recht-
fertigung: die Erzählung beginnt „a cornu Epistolae", d.h.
auf der Wand rechts des Altars, vom Beschauer gesehen,
umzieht drei Wände der Kapelle, um mit der Grabtragung
der Heiligen (Taf. 14) links des Altars zu enden. Die umge-
kehrte Reihenfolge, wie sie Molmenti-Ludwig vorschlagen,
ergäbe Unstimmigkeiten und Schwierigkeiten sowohl für
das „Ablesen" der einzelnen Kompositionen wie auch für
den inneren Rhythmus des Ganzen und seine logische Folge:
die Episode der Grabtragung, mit welcher die Erzählung
schließt, würde dann nicht auf den Altar zielen, sondern dem
Martyrium vorausgehen und zudem in ihrer Bewegungs-
richtung sinnwidrig auf eine frühere Szene, die Landung in
Köln, zurückweisen. Für die heutige Anordnung spricht
ferner, daß ein durch das Rundfenster an der Südseite der
Kapelle gegebener Lichteinfall im Schattenschlag der ein-
zelnen Bilder seine Entsprechung findet.
Die in einer Kopie von 1359 erhaltenen ursprünglichen
Statuten („Mariegola") der Scuola wurden 1488 erneuert
und neu gefaßt; im gleichen Jahre beschloß man Sparmaß-
nahmen für den geplanten Bilderschmuck der „teleri de la
istoria de madona santa Orssola". Das erste Bild dieses
Zyklus trägt die Jahreszahl 1490. Die Chronologie der
undatierten Bilder ist umstritten, doch dürfte die Vollendung
des Ganzen in die Jahre um 1496-98 zu setzen sein.
Nach einem Dokument war das Gebäude der Scuola 1646
so baufällig geworden, daß man Maßnahmen zu sofortiger
Abhilfe als notwendig ansah. Anscheinend wurde damals ein
Neubau, Kapelle und „Albergo" enthaltend, an benachbarter
Stelle, neben der Apsis von SS. Giovanni e Paolo aufgeführt.
Eine 1647 datierte, über der Tür der erneuerten Scuola
angebrachte Inschrift besagte, daß das Gebäude „vetustate
consumptum collabens iterum fabricatum fuit". Entgegen
der bisher vertretenen Ansicht, an der auch Perocco (1960,
S. 40 f.) festhält, der alte Bau sei nur mit einigen Verände-
rungen wiederhergestellt worden, könnte das auch eine
völlige Neukonstruktion bedeuten; der von Martinioni
(Sansovino, Venetia Gitta Nobilissima, ed. Martinioni 1663,
S. 72) gebrauchte Ausdruck „rifatto" widerspricht solcher
Annahme nicht. Um die Bilder den gegen früher veränderten
Maßen der Wände und den über ihnen angebrachten
Fenstern anzupassen, wurden sie damals großenteils am
oberen Rande und auch seitlich beschnitten. Im Jahre 1752
führte Giuseppe Cortese eine durchgreifende Restaurierung
durch (vgl. Bemerkung bei Kat. Nr. 5).
Nachdem die Scuola 1810 durch ein Dekret Napoleons
aufgehoben worden war, kamen die Bilder kurz darauf in
die Sammlungen der venezianischen Akademie, wo sie sich
heute befinden. Das Gebäude der Scuola wurde während des
19. Jahrhunderts durch Umbauten und Veränderungen bis
zur Unkenntlichkeit seiner ursprünglichen Form entstellt.
Zur Geschichte der Scuola: Molmenti-Ludwig, Carpaccio (1907),
S. 56 ff. - Fiocco, Carpaccio (1930), S. 62, Bemerkung zu Taf. xxxn.-
V. Moschini, Carpaccio. Die Legende der heiligen Ursula. Sammlung
Silvana Bd.vn(deutsche Ausgabe), Zürich 1949. — Pignatti, Carpaccio
(i955)> S. 179 6. - Moschini-Marconi,Accademia (1955),Nr.95-103. -
T. Pignatti, in Venezia e l'Europa, Atti del XVIII Congresso Inter-
nazionale di Storia dell' Arte, Venezia, 1955 (1956), S. 224 ff.
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