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Lustige Blätter: schönstes buntes Witzblatt Deutschlands — 25.1910

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No. 1, Jubiläums-Nummer
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https://doi.org/10.11588/diglit.47454#0046
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tagelang’ m den Maschinen umherwälzen, haben wir
noch reichlich Gelegenheit, das neueste, allerneueste für
die schwarzen Innenseiten zu verarbeiten und damit
das vollkommene Gleichgewicht zwischen Bild und
Aktualität zu wahren. In diesem Teil des Blattes
finden auch die stehenden Figuren zumeist ihre Unter-
kunft. Sie sind nicht eben zahlreich und erscheinen
nicht mit der pünktlichen Regelmäßigkeit, wie ihre
Kolleg en Schultze und I Füller im ,,Kladderadatsch“
und Nunne im „Ulk“. Relativ am häufigsten meldet
sich m den „Lustigen Blättern“ „Lattenfntze“ zum
Wort, em typischer Vertreter Berliner Lokalhumors,
der sich das Recht ersessen hat, im Namen des Blattes
seine vierschrötigen Ansichten im Dialekt vorzutragen.
Daß ihm diese Ansichten fast ausnahmslos vom Chef-
redakteur souffliert werden, soll nicht verschwiegen
werden. Bei künstlerischen Anlässen erscheint unser
Freund Anton Notenquetscher auf dem Plan; man
sagt ihm nach, daß er m lose gefügten Strophen die
elegantere Pointe bevorzugt. Die Allerweltsfigur
„Serenissimus“ ist natürlich auch bei uns ein gern
gesehener Gast und hat unsere besten Zeichner nach-
haltig beschäftigt.
In weiterer Auslegung könnte man auch die stets
wiederkehrenden Ganzgroßen der Politik, die durch
Geburt, Tradition, Geschichte und Parteiwillen erhöhten
Männer den stehenden Figuren beizählen. Aber die
Prestigemenschen sind selten geworden, und während
früher die Physiognomien Bismarcks, Eugen Richters,
Wmdthorsts, Miquels, Stöckers nur die markantesten
unter Dutzenden von populären Köpf en darstellten,
finden wir heut nur wenige, deren Züge zugleich em
Programm und eine physiognomische Notwendigkeit be-
deuten. Allen voran steht seit zwanzig Jahren bis auf
diesen Tag die Person unseres Kaisers, unseres vor-
nehmsten und vorzüglichsten Mitarbeiters, des nie ver-
sagenden Helden m zahlreichen Dramen, die wir auf
unseren politischen Seiten zur Darstellung bringen. Als
Honorar empfängt er von uns den Tribut des Respektes,
der auch m unserer humoristischen Spiegelung stets er-
kennbar bleibt; als Leistung erwarten wir von ihm
seine stete Präsenz auf unserer bunten Bühne und die
dauernde Hilfsbereitschaft seiner Impulsivität. Ihm an
unserem Jubiläum besonders zu danken, ist des Chronisten
Ehrenpflicht. Es liegt aber auch Grund zu der An-
nahme vor, daß der Imperator selbst manche Rolle, die
wir ihm auf unseren Bildern zuwiesen, manches Kostüm,
das wir für ihn ersannen, zufrieden belächelt hat.
Eine Chronik des Blattes darf nicht schließen, ohne
mit einigen Kernworten der großen Gewissensfrage der
Tendenz auf d en Leib zu rücken. Obschon ich als
Chefredakteur damit eigentlich am besten Bescheid wissen
müßte, so bekenne ich doch meine Verlegenheit, sofern
von mir em kurzer und prägnanter Ausdruck für die

Tendenz verlangt wird. Gewiß, die „Lustigen Blätter“
sind, nach der Quersumme ihrer Artikel gemessen,
„entschieden liberal“, „national“, und wie die schönen
Partei-Cliches alle heißen mögen; sie sind es aber nicht
ausschließlich und mit Versteifung auf das Programm
einer Fraktion. Eher möchte ich schon das Wort des
schwedischen Staatsmannes : „Du ahnst nicht, mit wie
geringer Weisheit die Welt regiert wird!“ als Leit-
motiv über das Blatt schreiben. Diese Unweisheit,
gleichviel wo sie zu Tage tritt — und der Himmel
sorgt dafür, daß die msipientia nirgends verschwindet
— bildet den Nährboden für die illustrativen und
textlichen Pflanzen, die im Gehege des Blattes wuchsen
und wachsen werden. Vom subjektiven Empfinden
kommen wir dabei natürlich ebensowenig los, wie die
Vertreter der ernstesten und zielbewußtesten Tages-
zeitungen. Nur daß wir, mit einem geringeren Gepäck
an übernommenen Verpflichtungen belastet, doch eher
einmal in die Lage kommen zu erproben, wie die Dinge
von einem anderen Standpunkt aus gesehen sich aus-
nehmen. Man verlacht den Plan eines Zentrums-Witz-

blatts mit Recht als ein absurdes Projekt, weil die

Leiter einer solchen Zeitschrift niemals von der dog-
matischen Zwangsvorstellung loskommen könnten. Aber
auch jenes andere Dogma ist der Feind des Humors :
die vorgefaßte Meinung, alle Witzpfeile müßten in der
nämlichen Richtung fliegen. Treffen müssen sie, und
wenn sie getroffen haben, so liegt darin der B eweis,
daß gut geschossen wurde. Für ein Blatt, das sich mit
seinem Temperament em für allemal zu dem Titelwort
„Lustig“ bekannt hat, kann es nur em oberstes Prinzip,
nur eine durchgreifende Tendenz geben: nicht einseitig
und nicht langweilig sein.
An dieser Tendenz festzuhalten ist das einzige Gelöbnis,

das wir im Beginn des Jubeljahrgangs vor dem Publikum ab-

zulegen haben.
Erfüllen wir
es, dann wird
sich den zahl-
reichen Bild-
senen, die
wir geliefert
haben, eine
neue anglie-
dern : die Serie
vom fünfund-
zwanzigsten
bis zum fünf-
zigsten Jahr-
gang,und wenn
uns die guten
Geister der
Frohlaune treu
bleiben, noch
darüber hinaus


in mfimtum !

Alexander Moszkowski.
 
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