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DER MEISTER DER LIEBESGÄRTEN

Es gibt keinen Kupferstecher des XV. Jahrhunderts, der so ausge-
sprochenermaßen das Gepräge der burgundischen Kunstweise aus der
Zeit Philipps des Guten trüge, wie der Meister der Liebesgärten.
Passavant benannte ihn nach den beiden Stichen, die auch gegenständ-
lich für den Künstler und seine Heimat charakteristisch sind. Ich habe
in meiner 1893 erschienenen Monographie so ziemlich alles gesagt,
was über den Stecher nach dem gegenwärtigen Stande der Forschung
zu sagen ist, und die wenigen Blätter, die ich seither seinem Werk
hinzuzufügen vermochte, ändern nichts an der Gesamterscheinung.
Wie bei seinen Vorgängern oder Zeitgenossen, dem Meister des Todes
Mariae und dem Meister des Kalvarienberges, hat sich auch bei ihm
von jedem der 22 Stiche nur ein einziges Exemplar erhalten.

Seine Gestalten sind eher lang als gedrungen. Die ziemlich kleinen
Köpfe haben, auch bei Jünglingen und Mädchen, einen ältlichen, un-
schönen Ausdruck, der hauptsächlich durch das Herabziehen der
Mundwinkel und durch ein starkes Betonen des Nasenrückens verur-
sacht wird. Die schneckenförmigen Löckchen, die wir schon beim
Meister des Kalvarienberges kennen lernten, finden sich auch bei ihm,
doch kommen daneben, namentlich in der Passionsfolge, lange, glatt
herabfließende Haare vor. Die Hände sind bald zu groß, bald zu klein,
wie denn der Liebesgärtner überhaupt ein ziemlich sorgloser Zeichner
ist. Noch schwächer erscheint die Bildung der Füße, die der Stecher,
wo es irgend angängig, durch aufliegende Gewänder verdeckt. Die
Figuren stehen unsicher, häufig, wie schon v. Quandt1 bemerkt hat,
auf den Zehen. Bei ungewöhnlichen Stellungen, z. B. bei dem zu Boden
geschlagenen Malchus auf der Gefangennahme (Nr. 7), weiß sich der
Künstler nicht mit der Lage der Füße abzufinden. Am naivsten kommt
dies Unvermögen bei den drei Kavalieren in der Mitte des großen
Liebesgartens2 zur Erscheinung, namentlich bei dem mit dem Becher,
der, auf den Fußspitzen stehend, den Oberkörper über den Bach hin-

1 Verzeichnis meiner Kupferstichsammlung Nr. 1 B.

2 Vergl. Taf. 40. Nr. 102.
 
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