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Lehrreiche Briefe
Pflichten etwas einzuräumen, ohne dabey zu besor,
gen, daß ich wider meine Verbindlichkeit in Anse-
hung der übrigen etwas versehe. Ich hatte mir ge-
schmeichelt, die seltne Wissenschaft, welche uns so
entgegengesetzte Pflichten zu vereinigen in den Stand
setzt, unter Ihrer Aufsicht zu erlangen. Unsere
Glücksumstande und meine Jugend machten, daß
ich die Zeit zu einer Heirath für sehr ungewiß, odee
Wenigstens für fehr entfernt ansahe. Ich hoffte,
mein Vater würde bey diefer meiner Versorgung
sein Augenmerk mehr auf meinen Geschmack, als
auf das natürliche Verlangen aller Menschen, grös-
ser zu werden, gerichtet seyn lassen. Vergebliche
Hoffnung! Ein Glück, das ich nicht Ursache hatte
zu erwarten, hat ihn zu einer Entschliessung ge-
bracht. Ich habe meine Hand und mein Herz ei-
nem Manne hingeben müssen, den ich kaum gesehen
habe, von dem ich nicht weiß, was er für eine Ge-
müthsart, noch was er für Lasier, noch was er für
Tugenden hat; einem Manne, dessen hoher Rang
mich mitten in die grosse Welt fetzet, und dessen Herz
ich nicht anders erhalten kann, als wenn ich mich
nach dem Gcschmacke richte, der ihn an dieselbe bin-
det. Muß ich mich dieser Welt ergeben, die unser
Erlöser für seine Feindinn erkläret? Muß ich alle-
zeit, indem ich darinnen lebe, ihm zuwider seyn?
Muß ich durch eine gäntzkiche Trennung von dersel-
ben das Herz eines Ehegatten, der mich anbetct,
von mir abwenden? Alles ist Gefahr, Mühe und
Zwang.
Lehrreiche Briefe
Pflichten etwas einzuräumen, ohne dabey zu besor,
gen, daß ich wider meine Verbindlichkeit in Anse-
hung der übrigen etwas versehe. Ich hatte mir ge-
schmeichelt, die seltne Wissenschaft, welche uns so
entgegengesetzte Pflichten zu vereinigen in den Stand
setzt, unter Ihrer Aufsicht zu erlangen. Unsere
Glücksumstande und meine Jugend machten, daß
ich die Zeit zu einer Heirath für sehr ungewiß, odee
Wenigstens für fehr entfernt ansahe. Ich hoffte,
mein Vater würde bey diefer meiner Versorgung
sein Augenmerk mehr auf meinen Geschmack, als
auf das natürliche Verlangen aller Menschen, grös-
ser zu werden, gerichtet seyn lassen. Vergebliche
Hoffnung! Ein Glück, das ich nicht Ursache hatte
zu erwarten, hat ihn zu einer Entschliessung ge-
bracht. Ich habe meine Hand und mein Herz ei-
nem Manne hingeben müssen, den ich kaum gesehen
habe, von dem ich nicht weiß, was er für eine Ge-
müthsart, noch was er für Lasier, noch was er für
Tugenden hat; einem Manne, dessen hoher Rang
mich mitten in die grosse Welt fetzet, und dessen Herz
ich nicht anders erhalten kann, als wenn ich mich
nach dem Gcschmacke richte, der ihn an dieselbe bin-
det. Muß ich mich dieser Welt ergeben, die unser
Erlöser für seine Feindinn erkläret? Muß ich alle-
zeit, indem ich darinnen lebe, ihm zuwider seyn?
Muß ich durch eine gäntzkiche Trennung von dersel-
ben das Herz eines Ehegatten, der mich anbetct,
von mir abwenden? Alles ist Gefahr, Mühe und
Zwang.