Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Lohmeyer, Walther
Die Massenszenen im älteren deutschen Drama — Heidelberg, 1912

DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.74267#0017
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
11

und Gesellschaftsszenen. Nicht nur wo der Dialog überspringt,,
finden wir eine derartige gleichzeitige Beschäftigung verschiedener
Standorte. Wenn Christus Wunder um Wunder tut, so wird
das von den Juden in der Synagoge mit steigendem Argwohn
verfolgt, ein immer lebhafteres Murren deutet ihr Mißfallen an.
Dadurch wird das Eingreifen dieser feindlichen Macht in die
Wirksamkeit des Heilands vorzüglich vorbereitet. Jeder Mit-
wirkende lebte die Handlung mit, vertrat in jedem Augenblick
die Gesinnung seines Standorts; das brachte einen wundervollen
inneren Rhythmus in die gesamte Darstellung. Großer Wert
wurde auch auf die realistische Verteilung der Masse gelegt.
Man wollte die biblischen Berichte so wirklichkeitsgetreu als mög-
lich darstellen. Im Frankfurter Passionsspiel von 1493T) wird bei
der Gefangennahme Jesu ausdrücklich angeordnet: „Judaei divi-
dantur in duas vias“, und im selben Spiel wird in der letzten
großen Szene vor Pilatus eine weit größere Menge Juden zu-
sammengezogen, als in den vorausgehenden Verhörszenen, was
den Eindruck der Szene bedeutend verstärkte.
Szenisch verstanden die Verfasser der alten Passionsspiele
die Masse also gut auszunützen; der Dialog dagegen blieb
auf einer ziemlich niedrigen Stufe stehen. Es wird einfach
zwischen redenden und stummen Personen unterschieden. Die
redenden sind durch Namen bezeichnet oder sonst deutlich
hervorgehoben. Die Menge, als Gefolge oder sonst, bildet nur
den bunten Hintergrund des Ganzen. Diese scharfe Scheidung
zwischen redenden und stummen Personen dauert noch über
das 16. Jahrhundert hinaus fort.
Die Masse wird nur an ganz bestimmte Stellen als einheit-
lich handelnde und sprechende Person erfaßt, nämlich da, wo
der biblische Text es unumgänglich verlangte, wie in der großen
Szene vor Pilatus, wo sie dem Umstimmungsversuch des Land-
pflegers widersteht. Auch hier beschränkt sich ihre Meinungs-
kundgebung gewöhnlich auf die bekanntesten Chorworte der
Evangelien; selbst in den deutschen Spielen sind diese kurzen
Massenrufe lateinisch geblieben, so noch in dem um 1500 auf-

’) Abgedruckt bei R. Froning, a. a. O.
 
Annotationen