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Lübke, Wilhelm
Grundriss der Kunstgeschichte — Stuttgart, 1864

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https://doi.org/10.11588/diglit.2899#0479
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ERSTES KAPITEL.
Allgemeine Charakteristik der neueren Kunst.

Wenn das Christenthum die Menschen zur Freiheit aufgerufen hatte,
so war diese Bestimmung iu der mittelalterlichen Kirche durch die Ueber-
macht der Hierarchie zurückgedrängt worden. Für die Zeiten der Bar-
barei war diese Priesterherrschaft eine wohlthuende Notwendigkeit ge-
wesen; unter ihremSchutz hatte der junge Keim des germanischen Kulturlebens
erstarken können und war dann mächtig hervorgebrochen, um sich am
freien Sonnenlichte herrlich zu entfalten. So sahen wir denn im Verlaufe
des Mittelalters die hierarchische Machtvollkommenheit hinschwinden und
ein ritterliches und städtisches Leben in mannhafter Tüchtigkeit sieh vom
alten Zwange loswinden. Doch in den Gemüthern herrschte ungeschmälert
die kirchliche Satzung, und die Kunst fasste das von der Eeligion dar-
gebotene Dogma treu im Sinn der allgemeinen Ueberlieferung auf.

Aber der Trieb nach Freiheit, nach Selbstbestimmung, der im Gegen-
satz zu der dumpfen Unterwürfigkeit des Orients der abendländischen
Menschheit als köstliches Erbtheil mit auf den Lebensweg gegeben ward,
erwacht nach kurzem Schlummer zu desto kühnerem Eingen. Es fehlte
schon im Mittelalter nicht an Vorboten, welche diesen frischen, jungen
Tag verkündeten. Wir sahen gleich bei seinem ersten Aufdämmern den
strengen Organismus der gothischen Architektur, dieser reinsten Tochter
des mittelalterlichen Geistes, sich lockern und in willkürliches Spiel mit
dekorativen Formen sich auflösen; wir spürten aber zugleich in den Werken
der Bildner und Maler die tiefe Sehnsucht, in selbsteignem Ausdruck von
den Wundern des göttlichen Geistes Zeugniss abzulegeu. Der Hauch eines
tiefer erregten Seelenlebens begann die strengen typischen Formen zu
verklären. So lange noch der Einzelne vom Banne seiner Corporation,
 
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