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Lübke, Wilhelm
Geschichte der Architektur von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart — Leipzig, 1865

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https://doi.org/10.11588/diglit.26748#0094

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Erstes Buch.

bekunden. Wir werden später in der griechisch-ionischen Bauweise die reife
Frucht kennen lernen, in welcher das verwandte Streben seinen edelsten, höch-
sten, geläuterten Ausdruck gewann.

SECHSTES KAPITEL.

Indische Baukunst.

I. Allgemeines.

Natm- des Ein tiefgeheimuissvolles, durch Wundersagen genährtes Interesse richtete
schon seit den Zeiten Alexanders die Sehnsucht der westlichen Völker nach
dem fernen indischen Osten hin. Die moderne Wissenschaft hat dieses Inter-
esse nicht mindern können, denn was sie erforscht und ergründet hat, weicht
an überwältigendem Zauber in keiner Weise den Dichtungen jener Mährchen.
Wir finden dort ein Land, das die üppigste Natur mit ihren verschwenderi-
schen Gaben überschüttet. Von den beiden heiligen Riesenströmen Brahma-
putra und Indus begrenzt, zu welchen als dritter, mittlerer der Ganges tritt,
dacht sich das Land terrassenartig vom höchsten Gebirgsstock der Erde, dem
Himalaya, bis zu den flachen Stromufern und Meeresküsten ab. Auf diesem
Terrain finden sich die Klimate aller Zonen, von der heissesten der Tropen
bis zur Region ewigen Schnees und Eises, neben einander; vornehmlich in der
Halbinsel des Dekan sind sie dicht zusammengedrängt. Wirkt hier die Natur
schon durch den unvermittelt raschen Wechsel ihrer Erscheinungen übermächtig
auf den Geist des Menschen ein, so scheint sie mit der überschwänglichen Fülle
ihrer Pflanzen- und Thierwelt ihn vollends umstricken zu wollen. Die Pro-
ducte der verschiedensten Zonen begegnen sich auf demselben Boden des
fruchtbarsten Stromlandes, welches, unterstützt von der brütenden Hitze der
tropischen Sonne, ihnen eine so erstaunliche Ueppigkeit des Wachsthumes und
der Verbreitung verleiht, dass von allen Culturpflanzen zweimalige Jahresernten
erzielt werden. Belebt ist diese Welt von einer Unzahl Gethiers, in welchem
gleichfalls die Natur ihre Richtung auf das Gewaltige kundgegeben hat, indem
sie den Elephanten und das Rhinoceros, die Riesen ihrer Gattung, schuf und
in den Schaaren kleinerer Geschöpfe den Mangel der Grösse durch die Massen-
haftigkeit ersetzte. Kein Wunder, dass der Mensch, in diese überströmend
reiche Umgebung versetzt, dem Eindrücke derselben sich nicht zu entziehen
vermochte; dass er, in einem Reiche des jähesten Wechsels, der schärfsten
Gegensätze, der üppigsten Triebkraft lebend, auch seinerseits einen Hang nach
dem Wundersamen, Uebermässigen erhielt, der die Thätigkeit der Phantasie
vorzugsweise beförderte und dieselbe wie in einem wogenden Chaos unbestimmt
schwankender Formen auf und nieder trieb.

Das Volk. Dies ist der vorwaltende Grundzug im Charakter des indischen Volkes,
der demselben unter den Völkern des Alterthums eine ganz besondere Stellung
anweist. Wir finden die Inder schon früh einer speculativen Richtung des
Denkens, einem Grübeln über die Geheimnisse des Daseins und der Schöpfung
 
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