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Lübke, Wilhelm
Geschichte der Architektur von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart — Leipzig, 1865

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https://doi.org/10.11588/diglit.26748#0317

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ERSTES KAPITEL.

Charakter des Mittelalters.

IN ach dem Intermezzo des mohamedanischen Styles suchen wir nunmehr Die germa-
den Punkt auf, von welchem die Architektur fortan ihren stätigen Schritt bis v^ner!
zum Gipfel der Vollendung lenkt. Wir kehren also zu den germanischen
Völkern des christlichen Abendlandes zurück, deren erste Versuche auf diesem
Gebiete wir früher schon in’s Auge fassten. Nur da, wo die höchsten Aufgaben
der Culturentwicklung gelöst werden, fühlen wir auch diesmal den vollen
Pulsschlag des architektonischen Lebens.

Das Bild, welches sich nun aufrollt, ist von allem bisher Erschauten so Neue stei-
ausseror den flieh verschieden, dass es hier doppelt Noth thut, den geschieht- Aichfteknu-.
liehen Hintergrund, auf welchem es sich ausbreitet, mit einigen Strichen an-
zudeuten. Nachdem die alten Völker in strenger Absonderung ihren natio-
nalen Charakter in selbständig verschiedenen Bildungsformen ausgeprägt,
nachdem dann die Römer auch in der Kunst den Erdkreis, so weit ihre Adler
drangen, ihrem herrschenden Gesetz unterworfen und in einer allgemein
gültigen Form jede nationale Besonderheit erstickt hatten, hebt jetzt eine
Epoche an, in welcher eine Menge mannichfach gearteter Völker von gleicher
Grundlage aus die Entwicklung der Baukunst als ein gemeinsames Ziel des
Strebens in grossartigster Weise zu erreichen sucht. Die antike Welt bot den
Anblick von plastisch geschlossenen Architektur-Gruppen. Das Mittelalter
gibt ein Architektur-Gemälde von unendlicher Tiefe der Perspective, von
unerschöpflicher Mannichfaltigkeit der Bewegung.

Unter Karl des Grossen Herrschaft begrüssten wir die ersten lebens-pasKaroim-
kräftigen Regungen germanischen Culturstrebens. Aber die römischen Tra-glscheReich'
ditionen wurden zu äusserlich, zu spröde erfasst; zu einer Verschmelzung
der widerstreitenden Elemente kam es nicht. Der germanische Geist musste
sich erst gleichsam auf sich selber besinnen und sich in Staat und Sitte
neue, entsprechende Formen schallen, ehe der Prozess einer künstlerischen
Neugestaltung sich vollziehen konnte. Wie gross auch Karl’s Verdienste um
Begründung eines neuen Cultürlebens waren, in staatlicher Hinsicht konnte
er sich doch nicht von der Idee eines zu begründenden Weltreiches lossreissen,
welches nach dem Muster der alten Cäsarenherrschaft die Eigenthümlichkeiten
der Nationen zu Gunsten einer centralisirten Einheit verwischt haben würde.

Da war es der Freiheitssinn der germanischen Völker, der die kaum ge-Zerstörung
schlossenen Bande bald nach des grossen Kaisers Tode trennte und der deg^'j'jn'
abendländischen Menschheit das Recht und die Möglichkeit individueller Reichs.
 
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