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Lübke, Wilhelm
Geschichte der Architektur von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart — Leipzig, 1865

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https://doi.org/10.11588/diglit.26748#0768

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746

Sechstes Buch.

VIERTES KAPITEL.

Die Baukunst im neunzehnten Jahrhundert,

Geistiger
Umschwung.

Hegemonie

Deutseh-

lands.

Neue Rich-
tung der
Architektur.

Schinkel.

Der Beginn des neunzehnten Jahrhunderts bezeichnet im europäischen
'Leben einen gewaltigen Umschwung. Die beiden vorhergehenden Jahrhunderte
hatten, im Geleit eines zügellosen Individualismus, alle festen, allgemeinen
Gesetze des sittlichen Daseins allmählich aufgelöst. In den staatlichen Ver-
hältnissen spiegelte sich nur unbegrenztes Belieben des Einzelnen, das mit
seiner Frivolität das gesellschaftliche Leben nach und nach immer gefährlicher
vergiftete. Die Folgen konnten nicht ansbleiben. Vor dem gewaltsamen Um-
sturz der Dinge brachen die alten Verhältnisse des staatlichen und gesellschaft-
lichen Lebens machtlos zusammen. Von da an beginnt ein neuer Aufschwung.
Die Welt hat erkannt, dass schrankenlose Willkür zu unheilvoller Auflösung
führen muss. Sie sucht seitdem wieder im Allgemeinen, in grossen Grund-
anschauungen ihren Halt zu finden. Vornehmlich ist es ein ernsterer geschicht-
licher Sinn, der aus der Erkenntniss der Vergangenheit die Gegenwart zu
begreifen und ihre Anforderungen zur Geltung zu bringen strebt. Die wissen-
schaftliche Bildung, tiefer und universeller als je zuvor, beginnt nachhaltiger
und wirksamer das Leben zu durchdringen.

Wir haben hier nur in kurzen Zügen diesen geistigen Umschwung anzu-
deuten, um den Punkt zu gewinnen, an welchen die Betrachtung der heutigen
Architektur anzuknüpfen ist. Jenem allgemeinen geistigen Wiederaufleben
geht das speciell künstlerische zur Seite. Auf architektonischem wie auf literari-
schem Gebiet ist Deutschland hier der Bannerträger der neuen Bewegung. In
unserer Literatur repräsentiren Winckelmann, Lessing, Herder, Goethe, Schiller
das Erwachen jener geistvollen, auf tiefstes Erfassen der griechischen Antike
gerichteten modernen Gesinnung. Die Vermählung von Faust und Helena ist
ein sinniges Symbol von der Verschmelzung modern-germanischen Geistes mit
antik-hellenischer Bildung.

Die Architektur*), die im Dienst eines aus unklarer Quelle geschöpften,
zuletzt unglaublich verwilderten Princips allen Zusammenhang in sich und mit
dem Leben, dessen Ausdruck sie sein sollte, verloren hatte, folgte dem all-
gemeinen geistigen Zuge. In der Anschauung, im treuen Studium der neu
entdeckten Werke' aus griechischer Bliithezeit fand sie ihre Läuterung und
Widergeburt. Seit Stuart und Revett begann ein eifriges, begeistertes Messen
und Zeichnen der antiken Reste, und die wissenschaftliche Forschung war nun
im Stande, die Geschichte der griechischen Baukunst in ihren wesentlichsten
Umrissen zu entwerfen.

Diese theoretisch-archäologischen Resultate in’s wirkliche Leben ein-
geführt, ihnen Körper und Seele gegeben zu haben, ist das unsterbliche
Verdienst Schinkel’’s (1781 —1841). Er erfüllte die entartete Architektur

*) Eine ausführlichere Darstellung der neuern deutschen Architektur hahc ich im ersten Bande von
Westermanns Monatsheften (1857) gegeben.
 
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