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Lübke, Wilhelm
Geschichte der Architektur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart (Band 1) — Leipzig, 1884

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https://doi.org/10.11588/diglit.26745#0022
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4

Erftes Buch.

Charakter
des Volkes.

fchmale langhingeftreckte Land vom Nil durchftrömt, d elfen Thal oftwärts von
höheren Gebirgsketten, weftwärts gegen die afrikanifche Wüfle hin von niedrigeren
Felfenkämmen eingefaßt wird. Erft gegen das Ende feines Laufes hin laßen die
weiter zurücktretenden Hügelzüge dem Thale eine breitere Entfaltung; der Strom
bildet ein Delta, durch welches er, in viele Arme getheilt, dem Meere zuftromt.
Obwohl nun das Nilthal durch die libyfchen Felsreihen gegen den verheerenden,
alles Leben überdeckenden Sand der Wüfte gefchützt ift, würde die Dürre des
regenlofen Klimas das Land dennoch zur Unfruchtbarkeit verdammen, wenn nicht
die alljährlich wiederkehrende Anfchwellung des Nils es mit einem Schlamm über-
zöge, welcher den Bewohnern als ergiebigfter Ackerboden dient. Diefe Ueber-
fchwemmungen treten, fobald die gewaltigen Regengüße des tropifchen Winters
in den Hochgebirgen Afrikas begonnen haben, mit einer Regelmäßigkeit ein, die
auf die alten Aegypter nicht geringen Einfluß übte. Da alles Gedeihen von dem
fegenfpendenden Strome herrührte, fo wurde es zunächft von Wichtigkeit, das
periodifche Wiederkehren der Anfchwellung vorher zu beftimmen. Die Rechen-
kunft bildete fich aus, zugleich wurde der Blick auf die Geftirne des Firmaments
gerichtet, um nach ihnen die Zeit einzutheilen. Sodann aber war es nicht genug,
diefe Zeit zu berechnen: man mußte auch, wenn die Ueberfchwemmung eintrat,
den Strom des Waßers reguliren, daß er überallhin gleichen Segen bringe, während
für die Städte fchützende Dammbauten nothwendig wurden. So übte lieh die
Bauthätigkeit der Bewohner, durch die Natur des Landes gezwungen, bereits früh-
zeitig in mächtigen Kanal- und Deichanlagen, die wie ein Netz über die Ufer
des Flußes fich ausbreiteten. Hatte man aber auf diefe Weife fich die Möglich-
keit eines annehmlichen Dafeins gefchaßen, fo ftrebte man auch danach, die
Spuren deßelben in bleibenden Denkmälern der Nachwelt aufzubewahren: es er-
wachte der Sinn für hiftorifche Exiftenz.

Noch einen tieferen Einfluß aber gewann der wunderbare, wohlthätige Strom
auf die Menfchen, indem er ihnen das Bild einer ftrengen Regel und Gefetz-
mäßigkeit gab und fie felbft zu Ordnung und Regelmäßigkeit anhielt. Allen ihren
Einrichtungen prägte fich diefer Geift feftbegründeter Norm, die kein Irren und
Schwanken kennt, ein, und der Volkscharakter erhielt eine fcharfe, aber auch
einfeitige Ausbildung des Verftandes. Doch dürfte nicht jede Eigentümlichkeit
der alten Aegypter aus jenen Naturbedingungen allein herzuleiten fein. Diefes
merkwürdige Volk lcheint einen angebornen Sinn für ernfte, würdevolle Auf-
faßung des Dafeins, für Betrachtungen von weniger myftifch-fpeculativer, als prak-
tifch-moralifcher Färbung gehabt zu haben. Gewiß ift, daß keinem Volke des
Alterthums die Vorftellung von der Nichtigkeit und Vergänglichkeit des menfeh-
lichen Lebens und von der Fortdauer der Seele nach dem Tode, und daraus
hervorgehend der Cultus des Todes, fo geläufig war wie den Aegyptern. Daraus
ergab fich die Macht des Priefterthums, das die vornehmfte Kafte bildete. In
den Händen der Prieffer war zugleich die Pflege der Wißenlchaften, befonders

— G. Erbkam. Ueber den. Gräber- und Tempelbau der alten Aegypter. Berlin 1852. — Gau. Neu
entdeckte Denkmäler von Nubien. Fol. Stuttgart und Paris 1822. — G. Perrot und Ch. Chipiez.
Gefch. der Kunft im Alterthume. I. Aegypten, deutfeh von Dr. R. Pietfchmann. Leipzig i882fg. —•
G. Ebers. Aegypten in Bild und Wort. Stuttgart 1879. 2 Bde. — Ueber das Gefchichtliche vergl.
Dümichen. Gefch. Aegyptens. Berlin 1880 ff. und Maspero. Gefch. der morgenländ. Völker im Alter-
thume, deutfeh von Pietfchmann. Leipzig 1877-
 
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