Drittes Kapitel. Der gothifche Styl.
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Kirchen geringen Spielraum. Sie war fall ausfchließlich auf die dem Auge ziem-
lich entfernt liegenden Pfeilerkapitäle verwiefen, an denen fie denn auch bald er-
ftarb, die nackte Kelchform zurücklaffend, bis in der Spätzeit des Styles felbft das
Kapital gewöhnlich fortfiel, fo daß das Gezweige der Rippen unmittelbar aus dem
Stamm des fchlanken Pfeilers fich veräftelte.
So war ein Inneres von einfacher Grundlage, klarer Eintheilung, gleichmäßiger Gefammt-
ßeleuchtung gleichartiger Räume gewonnen, welches freilich einen von den fran-
zöfifch-gothifchen Kathedralen weit abweichenden Eindruck macht. Dort gipfelten
fich Theile von verfchiedener Höhe, Beleuchtung und Ausdehnung in pyramidalem
Aufbau organifch auf, ein reiches Ganzes von mannichfachfter Combination, von
lebendig - malerifcher Wirkung, ein Erzeugniß reger Phantafie. Hier dagegen
trägt das Gleichartige der ganzen Anlage den Eindruck eines fchlicht verftändigen
Sinnes. Sahen wir dort das Gepräge ritterlichen Wefens, fo weht uns hier ein
demokratifch-bürgerlicher Geift an, wie er im Laufe des 14. Jahrh. wirklich im
Schooß der deutfchen Städte fich immer fiegreicher Bahn brach. Damit hängt
denn auch zufammen, daß die Form der Hallenkirche weit überwiegend an Pfarr-
kirchen und den Bauten der für die ftädtifche Wirkfamkeit beftimmten Orden der
Dominicaner und Franciscaner, feiten bei Stiftskirchen oder Kathedralen gefun-
den wird.
Am Aeußeren beherrfcht das ungeheure Dach, welches fammtliche Schiffe Aeufseres.
bedeckt, den Gefammteindruck in etwas unerfreulicher Weife. Die Einfachheit
zeigt fich hier von ihrer Schattenfeite. Doch ergriff man das Mittel niedrigerer
Kreuzgiebel, welche, den einzelnen Pfeilerabftänden entfprechend, fich mit ihrer
durch Maaßwerk belebten Fläche für die Seitenanficht nicht ungünffig erwiefen.
Ein großer äfthetifcher und conftructiver Fortfehritt wurde in Weftpreußen (und,
wie wir fahen, an einigen Kirchen im nördlichen Holland) getban, als man der
Länge nach jedem Schiff ein befonderes Dach gab, deffen Giebel für die künflle-
rifche Entwicklung der Facade einflußreich wurden. Im Uebrigen braucht nur
angedeutet zu werden, wie die Mauerflächen in ungefchmückter Weife fich aus-
breiten, die Strebepfeiler meiftens einfach, bisweilen mit einer Fiale bekrönt und
an der Vorderfeite mit Statuen geziert, in ganzer Höhe bis zum Dachgefims auf-
fieigen, wie auch am Chorfchluß eine ruhige, vereinfachte Form fich geltend
macht, und wie endlich die Facade in der Regel nur durch einen Mittelthurm
ausgezeichnet wird, wenn man nicht in ganzer Breite der Kirche einen eigenen
Vorhallenbau vorlegt, auf deffen Ecken manchmal zwei Thürme fich erheben.
Da die Seitenfchiffe nicht mehr als untergeordnete, ifolirte Theile fich kund gaben,
fo verlor die Anlage von Doppelthürmen ihre innere Berechtigung. Der einzelne
Thurm konnte, dem einen Dach der Kirche gegenüber, das in breiter Wucht fich
hinflreckte, das auffteigende Element kräftiger, concentrirter vertreten. Auch die
Behandlung der Thürme geifaltete fich in entfprechend einfacher Weife durch
Lifenen, Mauerblenden, große fenfferartige Schallöffnungen und fchlichten, fchlank
emporragenden ffeinernen, oder häufiger hölzernen, mit Blei gedeckten Helm.
Auch für Deutfchland laffen fich in der Ausübung des gothifchen Styls drei Epochen.
Haupt-Epochen, entfprechend dem Entwicklungsgänge der anderen Länder, unter-
fcheiden, nur daß hier, da man am einmal Ergriffenen länger fefthält, fich inniger
in dasfelbe einlebt und es ungern und zögernd aufgibt, der Beginn der Epochen
etwas fpäter, in manchen Gegenden faff um fünfzig Jahre herabdatirt werden
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Kirchen geringen Spielraum. Sie war fall ausfchließlich auf die dem Auge ziem-
lich entfernt liegenden Pfeilerkapitäle verwiefen, an denen fie denn auch bald er-
ftarb, die nackte Kelchform zurücklaffend, bis in der Spätzeit des Styles felbft das
Kapital gewöhnlich fortfiel, fo daß das Gezweige der Rippen unmittelbar aus dem
Stamm des fchlanken Pfeilers fich veräftelte.
So war ein Inneres von einfacher Grundlage, klarer Eintheilung, gleichmäßiger Gefammt-
ßeleuchtung gleichartiger Räume gewonnen, welches freilich einen von den fran-
zöfifch-gothifchen Kathedralen weit abweichenden Eindruck macht. Dort gipfelten
fich Theile von verfchiedener Höhe, Beleuchtung und Ausdehnung in pyramidalem
Aufbau organifch auf, ein reiches Ganzes von mannichfachfter Combination, von
lebendig - malerifcher Wirkung, ein Erzeugniß reger Phantafie. Hier dagegen
trägt das Gleichartige der ganzen Anlage den Eindruck eines fchlicht verftändigen
Sinnes. Sahen wir dort das Gepräge ritterlichen Wefens, fo weht uns hier ein
demokratifch-bürgerlicher Geift an, wie er im Laufe des 14. Jahrh. wirklich im
Schooß der deutfchen Städte fich immer fiegreicher Bahn brach. Damit hängt
denn auch zufammen, daß die Form der Hallenkirche weit überwiegend an Pfarr-
kirchen und den Bauten der für die ftädtifche Wirkfamkeit beftimmten Orden der
Dominicaner und Franciscaner, feiten bei Stiftskirchen oder Kathedralen gefun-
den wird.
Am Aeußeren beherrfcht das ungeheure Dach, welches fammtliche Schiffe Aeufseres.
bedeckt, den Gefammteindruck in etwas unerfreulicher Weife. Die Einfachheit
zeigt fich hier von ihrer Schattenfeite. Doch ergriff man das Mittel niedrigerer
Kreuzgiebel, welche, den einzelnen Pfeilerabftänden entfprechend, fich mit ihrer
durch Maaßwerk belebten Fläche für die Seitenanficht nicht ungünffig erwiefen.
Ein großer äfthetifcher und conftructiver Fortfehritt wurde in Weftpreußen (und,
wie wir fahen, an einigen Kirchen im nördlichen Holland) getban, als man der
Länge nach jedem Schiff ein befonderes Dach gab, deffen Giebel für die künflle-
rifche Entwicklung der Facade einflußreich wurden. Im Uebrigen braucht nur
angedeutet zu werden, wie die Mauerflächen in ungefchmückter Weife fich aus-
breiten, die Strebepfeiler meiftens einfach, bisweilen mit einer Fiale bekrönt und
an der Vorderfeite mit Statuen geziert, in ganzer Höhe bis zum Dachgefims auf-
fieigen, wie auch am Chorfchluß eine ruhige, vereinfachte Form fich geltend
macht, und wie endlich die Facade in der Regel nur durch einen Mittelthurm
ausgezeichnet wird, wenn man nicht in ganzer Breite der Kirche einen eigenen
Vorhallenbau vorlegt, auf deffen Ecken manchmal zwei Thürme fich erheben.
Da die Seitenfchiffe nicht mehr als untergeordnete, ifolirte Theile fich kund gaben,
fo verlor die Anlage von Doppelthürmen ihre innere Berechtigung. Der einzelne
Thurm konnte, dem einen Dach der Kirche gegenüber, das in breiter Wucht fich
hinflreckte, das auffteigende Element kräftiger, concentrirter vertreten. Auch die
Behandlung der Thürme geifaltete fich in entfprechend einfacher Weife durch
Lifenen, Mauerblenden, große fenfferartige Schallöffnungen und fchlichten, fchlank
emporragenden ffeinernen, oder häufiger hölzernen, mit Blei gedeckten Helm.
Auch für Deutfchland laffen fich in der Ausübung des gothifchen Styls drei Epochen.
Haupt-Epochen, entfprechend dem Entwicklungsgänge der anderen Länder, unter-
fcheiden, nur daß hier, da man am einmal Ergriffenen länger fefthält, fich inniger
in dasfelbe einlebt und es ungern und zögernd aufgibt, der Beginn der Epochen
etwas fpäter, in manchen Gegenden faff um fünfzig Jahre herabdatirt werden