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Maeterlinck, Maurice; Oppeln-Bronikowski, Friedrich von [Übers.]
Der Schatz der Armen — Florenz, Leipzig, 1898

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https://doi.org/10.11588/diglit.37324#0094
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ihm zur Seite geht, weil er zu einer gewissen Zeit seines Daseins ein leb-
hafteres Bewusstsein von einer dieser Beziehungen gehabt hat. Wenn es
wahr ist, dass die Schöpfung nicht beim Menschen stehen bleibt und dass
höhere Wesen uns unsichtbar umgeben, so sind diese Wesen uns nur
deshalb überlegen, weil sie zur Unendlichkeit Beziehungen haben, die
wir nicht einmal ahnen können.
Es liegt in unsrer Hand, diese Beziehungen zu vervielfältigen. Im Leben
eines Jeden giebt es einen Tag, an dem der Himmel sich bei ihm von
selbst erschliesst; von diesem Augenblick an rechnet meist die wahre
geistige Persönlichkeit eines Wesens. In diesem Augenblicke bildet sich
ohne Zweifel das ewige, unsichtbare Antlitz, das wir unbewusst den Engeln
und Seelen zeigen. Aber für die meisten Menschen öffnet sich der Himmel
derart nur durch Zufall. Sie haben das Antlitz nicht gewühlt, an dem
die Engel sie im Unendlichen wiedererkennen; noch wissen sie, diese
Züge zu veredeln oder zu läutern. Sie sind nur vom Zufall einer Freude,
einer Trübsal, eines Schreckens oder eines Gedankens geboren.
Denn in der That geboren werden wir an dem Tage, wo wir zum ersten
Male tief empfinden, dass es etwas ernstes und unerwartetes im Leben
giebt. Die Einen finden ganz plötzlich, dass sie nicht allein unter dem
Himmel sind; und die Andern werden bei einem Kusse, den sie geben,
einer Thräne, die sie vergiessen, plötzlich gewahr, dass „die Quelle alles
Trefflichsten und Heiligsten im Weltall bis zu Gotte hinter einer Nacht
voll allzu ferner Sterne liegt"; ein Dritter sieht eine göttliche Hand zwischen
seine Freude und sein Unglück sich schieben, und ein Vierter hat begriffen,
dass die Toten recht haben. Ein Andrer ist mitleidig, ein Andrer furchtsam
gewesen, ein Andrer hat bewundert. Meistenteils ist fast gar nichts von
nöten; ein Wort, eine Gebärde, eine Kleinigkeit, die nicht einmal ein
Gedanke ist. „Vor Zeiten liebt* ich dich wie einen Bruder", sagt ein
Held Shakespeares von einer Handlung, die er bewundert, „jetzt aber
acht* ich dich wie meine Seele." Wahrscheinlich kam an diesem Tage
ein Wesen zur Welt.
Wir können derart mehr als Einmal geboren werden; und bei jeder dieser
Geburten nähern wir uns unserm Gotte ein wenig. Doch fast immer
begnügen wir uns damit, zu warten, bis ein Ereignis voll unwiderstehlicher
Klarheit gewaltsam in unsre Finsternis dringt und uns wider unsern Willen ^ ^
aufklärt. Wir erwarten, ich weiss nicht welches glückliche Zusammen- H&*
 
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