Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Malkowsky, Georg [Red.]
Die Pariser Weltausstellung in Wort und Bild — Berlin, 1900

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.1250#0144
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
130

Die Pariser Weltausstellung in Wort und Bild.

bist! Wenn der geistige Typus Franzose wirklich aussterben
sollte, welchen Verlust würde das für'die Menschheit bedeuten!"
„Ihre Hoffnungen brauchen Sie nicht aufzugeben, obgleich
dieselben Beobachtungen, die Sie als flüchtiger Gast anstellen,
auch von anderen gemacht worden sind. Dass Ereignisse wie
der Dreyfus-Prozess und die Bewegung der Intellektuellen
ein Volk ernster machen kann, ist am Ende begreiflich.
Ein grosser Teil der Nation hat angefangen einzusehen, dass
der Ruf nach Revanche für sich allein noch nicht moralische
Tüchtigkeit bedeutet. Was Ihnen aber als Verfall erscheint,
wird von anderen gerade als Anfang der Besserung angesehen.
Und sollten wir Deutsche wirklich von unserem Volkscharakter
so niedrig denken, dass wir im Interesse der Menschheit be-
dauern müssten, wenn andere auch von uns etwas annehmen?
Unverkennbar hat Frankreich in den letzten drei Jahrzehnten
hervorragende wissenschaftliche Anregungen von Deutschland
empfangen, und gerade auf dem Gebiete der historischen

Richard Wagner-Vase.

i Professor Sturm; Kdnigl. Porzeilan-,Manufuktur zu Meissen.

Wissenschaften wird dies in der französischen Gelehrtenwelt
auch wohl rückhaltlos zugegeben. Kann es da wunderbar er-
scheinen, dass auch die fransösische Kunst hiervon berührt
wird, und dass der bestgelungene Teil der französischen Kunst-
ausstellung schliesslich einmal mehr wissenschaftlich als künst-
lerisch wird ? Für die Hoffnungen auf einen gegenseitigen
Austausch der beiden Volkscharaktere sollte solche Beobach-
tung doch eher ermutigend sein."

Wer als Spezialfach bei einem Ausstellungsbesuche die
Sozialpolitik betrachtet, sollte niemals vergessen, dass eine
Ausstellung selbst ein sozialpolitisches Unternehmen ist. In
dieser Beziehung durfte man die Erwartungen in Paris schon
etwas hoch spannen, denn die Ausstellung untersteht einem
sozialdemokratischen Handelsminister. In de? That sind unter
Millerand bei der Errichtung der Aus Stellungsgebäude (und
diese Errichtung dauert ja so lange, dass die Herstellung selbst
sozusagen mit ausgestellt wird) sozialpolitische Rücksichten in
weitem Umfange genommen worden. Alle Unternehmer sind
zur Innehaltung bestimmter Sätze für Arbeitslohn und Arbeits-
zeit verpflichtet worden, das ausführliche Verzeichnis der ein-
zelnen Arbeiterkategorien zeigt Stundenlöhne von 55 Cts. bis
Fr. 1,50. Für gelernte Arbeiter bewegen sich die Lohnsätze
meist nicht viel unter 1 Fr. pro Stunde bei etwa zehnstündiger
Arbeitszeit, so dass ein Tagelohn von 9—10 Fr., häufig auch
das Anderthalbfache nichts ganz seltenes ist. Diese Bestim-
mungen sind zwar für alle Staatsbauten in Paris erlassen,
aber in ihrer Höhe offenbar durch die Konjunktur bestimmt,
die durch die Ausstellungsbauten gegeben ist. Der viel-
genannte Generalkommissar der Weltausstellung, M. Piccard,
ist gleichzeitig Präsident der Arbeitszeit- und Lohn-Kommission.
Während der Vorbereitung zur Ausstellung tauchte einmal der
Gedanke auf, die Arbeiter-Assoziationen dadurch zu Ausstellern
zu machen, dass man ihnen hervorragende Ausstellungsgebäude
überträgt. Aber selbst der Vorstand der sozialpolitischen
Gruppe wagte nicht mit mehr als einer schüchternen Empfeh-
lung aufzutreten. Die Arbeiterassoziationen, die sich von
Anfang an an den Bewerbungen wie andere Firmen beteiligt
hatten, erklärten sich schliesslich bereit, die ihnen schon über-
tragenen einzelnen Bauten in entsprechendem Masse aufzu-
geben, wenn ihnen die Herstellung des Gebäudes für die
sozialpolitische Gruppe, der Sozialpalast, einheitlich übertragen
würde. Dies ist geschehen. Indess architektonisch bietet dieser
Bau nichts besonderes. Seine Herstellung beweist eben nur,
dass auch jene Assoziationen wie andere Firmen bauen können.
Immerhin etwas. — In weit hervorragenderem Masse ist
aber eine Ausstellung ein sozialpolitisches Unternehmen unter
dem Gesichtspunkt, dass sie als Volksbildungsmittel benutzt
werden kann. Billige Zugänglichkeit ist daher ein erstes Er-
fordernis für Wirksamkeit einer Ausstellung. In dieser Be-
ziehung ist es in Paris nicht so schlimm bestellt wie man in
Deutschland auf die blosse Nachricht hin, dass das Entree
einen Franc koste, anzunehmen pflegt. Das eigentümliche
System der Finanzierung hat nämlich zur Folge, dass die Eintritts-
billets, die „Tickets", einen schwankenden und zwar einen
sinkenden Kurs haben. Schon vor Beginn der Ausstellung
sind 60 Millonen Tickets fest verkauft worden. Zu jedem
Bündel von 20 Stück wurde ein Lotterielos zugegeben.
Grosse Bankhäuser, z. B. der Credit Lyonnais haben .sich
daran beteiligt. Jetzt werden diese Tickets massen-
weis auf den Markt geworfen und zu einem Kurse
verkauft, der augenblicklich 55 Centimes, also etwa 45 Pfennig
beträgt (wobei die Banken und sonstigen Verkäufer das Haupt-
gewicht also auf die ihnen bleibenden Gewinnchancen in der
Lotterie legen). Daneben besteht ein ausgedehntes System
von Freibillets, das auch den Gewerkschaften in hohem Masse
 
Annotationen