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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 15.1972

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Nr. 4
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Hat Latein noch eine Chance?
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Weber, Franz Josef: Das Erbe der Antike: aus: Jahresbericht der Vereinigung ehemaliger Theodorianer 1971
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https://doi.org/10.11588/diglit.33065#0096

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wissens“ - etwa Latein oder eine zweite Fremdsprache (nach FA2 vom 20.
August 1972).
Die Herren Frister bzw. Nagel (GEW) teilten auf Anfrage mit, die Äußerungen
nicht in Erinnerung zu haben, sie könnten in der Diskussion jedoch gefallen sein.
L.

Das Erbe der Antike
(Aus: Jahresbericht der Vereinigung ehemaliger Theodorianer 1971)
Ich stelle im Anschluß an W. Schadewaldt die These auf, daß geistige Aufstände,
Verjüngungen und Krisen den Lebensrhythmus unseres Erdteils bestimmen und daß dies
ein Erbteil sei, das uns die Antike hinterlassen hat. Positiv formuliert heißt das, daß
Etlropa sich durch geistige Lebendigkeit, durch das Streben nach neuer Erkenntnis,
durch schöpferische Unruhe auszeichnet. Das ist' die Mitgift der Antike, speziell der
griechischen Antike. Wie sehr diese Behauptung zutrifft, möchte ich am Verhältnis der
Griechen zu ihrem Nationaldichter Homer zeigen. Man sollte meinen, daß Homer, den
man die „Bibel der Griechen“ genannt hat, für die Griechen den Rang der Vorbild-
lichkeit und Klassizität gewonnen habe. Doch dem ist nicht so. Die erste große Per-
sönlichkeit der griechischen Geistesgeschichte nach Homer ist Hesiod, der Dichter aus
Böotien. Er steht als Dichter in der Tradition Homers. Aber er setzt sich, um das Eigene
zu erfassen, von Homer ab: er bezeichnet die homerischen Dichtungen als „Lügen“, als
„Erfundenes“, d. h. er kritisiert die homerischen Mythen um ihres Inhalts willen, der
ihm zu spielerisch, zu locker, zu frivol erschien. 100 Jahre nach Hesiod benutzt schon
Solon von Athen ein Sprichwort (Frg. 21), das lautet: „Vieles lügen die Sänger“,
d. h. die epischen Dichter und besonders Homer. Auch der Dichter Pindar kritisiert an
Homer die sog. Unwahrheiten. Homer übertreibe mit schönen Worten und täusche seine
Hörer mit kunstvoll gearbeiteten schönen Lügen. Es wird also auch hier das Was, das
Gegenständliche, der Inhalt kritisiert. Dagegen lobt Pindar das Wie, die göttlichen
Verse, das Ästhetische und Künstlerische, die Form also, die er als das Bleibende und
Ewige ansieht. Eine besonders scharfe Stellungnahme gegen Homer findet sich bei dem
Philosophen Heraklit. Er stellt sich gegen Homer und andere Autoritäten der Ver-
gangenheit und Gegenwart, weil diese die von ihm entdeckte Wahrheit nicht erkannt
haben. Fragment 42 heißt es: „Homer verdiente aus den Wettkämpfen herausgeworfen
zu werden und mit Ruten geschlagen zu werden“ und Fragment 40: „Vielwisserei lehrt
noch nicht, Verstand zu haben.“ Bezeichnend für Fleraklit ist es, daß er gegen Homer
und alle sonstigen Autoritäten polemisiert, weil sie etwas anderes behaupten als das,
was er als wahr erkannt hat. Mit anderen Worten: weil sie etwas sagen, was wissen-
schaftlich überholt ist. Ebenso berühmt ist die Kritik des Xenophanes von Kolophon.
In Fragment 11 erklärt er: „Alles haben Homer und Hesiod den Göttern angehängt,
was bei den Menschen als Schimpf und Schande gilt, nämlich Stehlen, Ehebrechen und
Betrügen.“ Fragment 14-16 übt Xenophanes Kritik, weil Homer die Götter anthro-
pomorph, d. h. nach menschlichem Ebenbild dargestellt habe. Xenophanes, der erste
griechische Monotheist, setzt dem entgegen die Vorstellung von einem Gott. Dieser
Monotheismus des Xenophanes ist aber nur möglich vor der Folie Homers, der eine
polytheistische und anthropomorphe Gottesvorstellung hatte. Mit anderen Worten:
Xenophanes ist sich der neuen Wahrheit nur dadurch bewußt geworden, daß es vor ihm
Homer gab, der sozusagen die alte Wahrheit verkörperte. Xenophanes wird sich des
Neuen bewußt, dadurch daß er sich radikal von der Autorität Homer absetzte. Ebenso
kritisch verhält sich der Historiker Herodot gegenüber Homer. Er kritisiert ihn vom
Gesichtspunkt der historischen Wahrheit her, die er, Herodot, besser zu erkennen glaubt.

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