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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 27.1984

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Barié, Paul: "Eine Lanze für Caesar", [2] - eine überflüssige Metapher: eine Antwort an Heinz Munding (MDAV 2/83)
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https://doi.org/10.11588/diglit.33084#0014

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Volkes zu stärken und dadurch dessen Lebensenergie zu steigern, war ... klare
Absicht der römischen Nationalliteratur“ (E. Topitsch, Sozialphilosophie zwi-
schen Ideologie und Wissenschaft, Soziol. Texte Band 10, Neuwied und Berlin
21966, S. 161-62); doch kann es nicht unsere pädagogische Aufgabe sein, das
Selbstverständnis der Römer zu übernehmen, uns gewissermaßen auf ihre Seite
zu schlagen. Simone Weil hat auf den psychologischen Mechanismus hingewie-
sen, der es nur allzu nahe legt, sich mit den Siegern zu identifizieren, besonders
wenn ihnen „historische Größe“ nicht abgesprochen werden kann. (Vgl. meinen
Beitrag Vox clamantis in deserto... Römische Ideologie in polnischer Lyrik, AU 1/
83, 69-75). Damit ein Bezug auf die eigene Lebenswirklichkeit, also ein existen-
tieller Transfer, zustandekommt, muß man bereit sein, das in den Texten
Gemeinte, das man natürlich zuvor verstanden und sogar „nachvollzogen“ haben
muß, im Horizont gegenwärtiger Erfahrung zu brechen. (Vgl. dazu mein Buch:
Die mores maiorum in einer vaterlosen Gesellschaft. Ideologiekritische Aspekte
literarischer Texte, aufgezeigt am Beispiel des altsprachlichen Unterrichts,
Frankfurt a.M. (Diesterweg) 1973, besonders die These 2.2.2 S. 12 und 13).
5. Zu meinem Hinweis auf den 1945 fälligen (und in unseren Fächern mit
bezeichnendem cultural lag erst etwa 20 Jahre später artikulierten) „Paradigmen-
wechsel“ zu einem kulturanthropologisch offenen (und nicht einseitig „martiali-
schen“) Lektürekanon, an dieser Stelle so viel: Ich bin mir persönlich der „Ohn-
macht des Geistes“ in politicis und erst recht der pragmatischen Unzulänglichkeit
eines (nur) pädagogischen Wechsels der Paradigmen wohl bewußt (obwohl der
Terminus, wie er von Th. S. Kuhn geprägt, von Blumenberg aufgenommen und
von Fuhrmann und mir auf die Vermittlung der Antike angewendet wurde, weit
über das Pädagogische hinausreicht und eine fundamentale Änderung der Welt-
deutung an einer historischen Epochenschwelle meint); selbstverständlich wird
heute noch in der Politik analog zu Caesar verfahren, gelten die expliziten und
erst recht die impliziten, die stillschweigenden Voraussetzungen des Bellum Gal-
licum mutatis mutandis nach wie vor; es kann auch nicht darum gehen,
die Realität des Machtpolitischen in der Schule zu verschweigen oder durch ein
humanistisches Wunschdenken zu verdrängen; ich wollte nur verdeutlichen, daß
die im Bellum Gallicum vorliegende (durch die Textsorte der Commentarii,
durch Charakter und Intention ihres Autors bedingte) Reduktion des Menschli-
chen auf das machtpolitisch Relevante eine verkürzte und daher humanistisch
unzulängliche Perspektive darstellt. Und ich habe eben Bedenken, daß Schüler
an einem derart kohärenten und „glatten“ Text erste Leseerfahrungen mit Origi-
nallatein machen sollen. Analog könnte man fragen, ob Clausewitz’ Autoren-
ruhm geschmälert wird, wenn man ihn nicht als Lesefibel verwenden mag.11
1 In praxi bin ich freilich gar nicht so weit von Heinz Munding entfernt; er will ja
durchaus auch die Gefährlichkeit dieses reduzierten Denk- und Handlungsstils
bewußt machen, und warum sollte man nicht das Bellum Gallicum als befremdende
Spiegelung aktueller Verhältnisse lesen, zumal Isomorphes und Allomorphes dabei
 
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